Nach dem Abriss ihrer alten Schule im Norden Mailands sollten die Schülerinnen und Schüler der Viscontini-Schule malen, wie sie sich das neue Gebäude vorstellen. Ein besonders kreativer Entwurf mit gelben, roten, grünen und blauen Quadraten kam von Vittoria.
Die Zeichnung des Mädchens inspirierte die Architekten. Bunt, großräumig und lichtdurchflutet präsentiert sich die neue Viscontini-Schule, unterteilt durch wenige Innenwände. Lediglich die Klassenräume sind separat. Damit ist die Viscontini-Schule alles andere als konventionell.
Dennoch geht es bei Finanzierungen für Schulen noch immer vornehmlich um die Gebäude und kaum darum, wie sie genutzt werden. „Aber Bildungsinfrastruktur, pädagogische Methoden und andere Bildungsinvestitionen müssen von Anfang an ineinandergreifen“, betont Silvia Guallar Artal, bei der Europäischen Investitionsbank auf Bildungsthemen spezialisiert.
Guallar und ihre Kollegin Yael Duthilleul von der Entwicklungsbank des Europarates arbeiten derzeit an einem innovativen Konzept für die Finanzierung von Bildungsinfrastruktur. Sie wollen sicherstellen, dass millionen- oder gar milliardenschwere Investitionen so eingesetzt werden, dass Kinder unter optimalen Lernbedingungen die Kompetenzen erwerben können, die sie für ihr späteres Leben brauchen.
Italien investiert wie viele andere Länder erhebliche Summen in Schulgebäude (neue Schulen, Kindergärten, Vorschulen, Mensen, Sportanlagen, Sicherheit) und eine innovative digitale Lernumgebung.
Der Neubau der Viscontini-Schule gehört zu einem nationalen Programm zur Schulmodernisierung, das zu einem großen Teil von der EIB finanziert wird. Über die italienische Förderbank Cassa depositi e prestiti vergibt die Bank der EU für dieses Projekt 1,255 Milliarden Euro; weitere 300 Millionen Euro stellt die Entwicklungsbank des Europarates (CEB) bereit.
Das von der EIB und der CEB kofinanzierte Pilotprojekt soll einen neuen Ansatz zur Finanzierung von Bildungsinfrastruktur testen, der das Lernumfeld in den Mittelpunkt stellt. Das Pilotprojekt läuft an je zwei Schulen in Italien und Finnland. Die Stadt Mailand schlug dafür die Viscontini-Schule vor. Denn für ihre innovative Neugestaltung wurden auch die Menschen vor Ort befragt, und die Lehrkräfte wurden gecoacht, wie sie die neuen Räumlichkeiten optimal nutzen können.
Zusammen mit einer Expertengruppe begleiten Guallar und Duthilleul Neubau- und Sanierungsprojekte von Schulen in Italien und Finnland. Sie wollen genauer verstehen, wie neue Gebäude geplant und anschließend genutzt werden.
„Constructing Education“ heißt der neue Finanzierungsansatz. Er soll sicherstellen, dass bei der Planung und beim Bau von Schulen eine Lernumgebung entsteht, die den Unterricht und den Lernerfolg optimal fördert. Dies schließt auch die Unterstützung des Lehrpersonals bei der Entwicklung didaktischer Methoden für die neuen Räumlichkeiten ein.
Ziel ist es, den Kindern die Angst vor dem Umzug in eine neue Schule zu nehmen und die Lehrkräfte schneller auf die neue Umgebung einzustellen. Deshalb sieht der neue Ansatz für die Finanzierung von Schulgebäuden künftig auch Mittel für die Fortbildung und Konsultation der Lehrkräfte vor. Und nach dem Einzug wird in Umfragen analysiert, welche Räumlichkeiten sich am besten eignen.
Die räumliche Gestaltung allein macht das Lernergebnis nicht besser, guter Unterricht aber schon
Duthilleul zufolge ist es mit Planung, Bau und Umzug nicht getan. Lehrkräfte und Kinder müssen auch alles an die Hand bekommen, um die Vorteile der neuen Räume voll ausschöpfen zu können. „Die räumliche Gestaltung allein macht das Lernergebnis nicht besser, guter Unterricht aber schon“, so Duthilleul. „Die Lehrkräfte spielen eine maßgebliche Rolle dabei, ihre Schülerinnen und Schüler auf das spätere Leben vorzubereiten.“ Es gilt also, die Schule so zu gestalten, wie sie später von den Lehrenden und Lernenden genutzt werden soll.
Um die Praxistauglichkeit von „Constructing Education“ in Italien zu untersuchen, arbeiten Duthilleul und Guallar mit der Stadtverwaltung von Mailand und dem Nationalen Institut für Dokumentation, Innovation und Bildungsforschung (INDIRE) zusammen. Schulen, die an dem Pilotprojekt teilnehmen, füllen vor und nach dem Umzug eine Reihe von Fragebögen aus.
Darin wird erfasst, welche Schwierigkeiten Lehrkräfte und Verwaltung beim Umzug in das neue Gebäude haben, wie sich diese Probleme künftig vermeiden lassen und wie sich das Lernen und Lehren in den neuen Räumen insgesamt anfühlt.
„Das neue Konzept zwingt uns, einige unserer Praktiken zu überdenken“, erklärt Cristiano Scevola vom Bildungsdezernat der Stadt Mailand. „Wir schauen uns an, wie die Schulen an die Nutzung der neuen Räume herangehen, auf welche Schwierigkeiten sie dabei stoßen und welche Ideen für Veränderungen daraus erwachsen.“
Auf der Konferenz „Implementing the Constructing Education Framework“ in Järvenpää, Finnland, tauschten Vertreterinnen und Vertreter des italienischen Pilotprojekts am 15. und 16. November 2023 die wichtigsten Erkenntnisse mit ihren finnischen Kollegen und mit Silvia Guallar, Yael Duthilleul und Vertretern der Stadtverwaltung aus.
Moderne Schulen bauen
Winston Churchill sagte einmal: „Wir formen unsere Gebäude, danach formen sie uns.“
Das traditionelle Klassenzimmer hat sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert. Meist ist es ein von Wänden umschlossener Raum mit frontal ausgerichteten Tischreihen und Blick zur Tafel. Bei veralteten Lehrmethoden, die auf reinem Auswendiglernen beruhen, mag diese Sitzordnung funktioniert haben. Das 21. Jahrhundert verlangt jedoch nach Fähigkeiten wie den 4Ks (Kommunikation, kritisches Denken, Kreativität und Kollaboration).
Die neue Viscontini-Schule besticht durch hohe Decken, eine Vielzahl von Fenstern und Glasfassaden sowie eine fließende Raumstruktur mit wenigen Innenwänden oder hinter Türen verborgenen Klassenzimmern. Mit Schiebewänden lassen sich die Unterrichtsräume variabel anpassen.
„Ich mag diese Flexibilität sehr. Kinder und Lehrkräfte aus verschiedenen Klassen können so leicht zusammenarbeiten“, sagt Giovanna Franco, Lehrerin an der Viscontini-Schule. Pädagogen und Verwaltungsangestellte der Schule hoffen, dass die Kinder durch diese offene Lernumgebung auch mehr Flexibilität für ihr späteres Leben entwickeln.
Die Veränderungen beschränken sich jedoch nicht auf den Unterricht. Auch die Pausenbereiche wurden neu durchdacht. Und da die Kinder ständig zwischen verschiedenen Klassenräumen wechseln, sind auch die Flure breiter. Damit entfallen zudem versteckte Winkel, in denen Kinder unbeobachtet drangsaliert werden können.
Das Schulgebäude liegt inmitten des 60 Hektar großen Trenno-Parks, Mailands größtem Park unweit des San-Siro-Fußballstadions. Die Turnhalle, das Auditorium und die Bibliothek haben einen separaten Eingang, sodass sie außerhalb der Schulzeit auch von Anwohnern genutzt werden können.
Die neue Schule für 6- bis 11-Jährige öffnete im Juni 2021 ihre Pforten. Sie wurde mit nachhaltigen Materialien gebaut und hat eine gute Belüftung. Sie verfügt über
20 Klassen- und 8 Laborräume, darunter Fachräume für Musik, Naturwissenschaften und Kunst
einen Raum für Umweltunterricht
eine Turnhalle mit Kletterwand und eine Tribüne mit 450 Sitzplätzen
ein Auditorium mit 100 Sitzplätzen
eine Dach-Fotovoltaikanlage, die den Energieverbrauch der Schule senkt und ihre Umweltbilanz verbessert
1 270 Quadratmeter Grünflächen mit Spielplatz, Gemüsegarten und zwei Freiluft-Klassenräume
Lehrkräfte und Kinder gleichermaßen hatten Hemmungen, auch nur eine Reißzwecke in die Wand zu stecken
Neue Herausforderungen und Chancen
Als die Lehrerin Cristina Colombo erfuhr, dass die Stadt ihre Schule abreißen wollte, war sie entsetzt. „Meine Mutter ist dort zur Schule gegangen und ich auch“, erklärt sie. Die Schule war für sie wie ein zweites Zuhause, doch leider enthielt das Gebäude Asbest. Der Abriss war unumgänglich.
Colombo, die unweit der Via Viscontini am nördlichen Rand von Mailand wohnt, verfolgte den Neubau der Schule über die gesamte achtjährige Bauzeit. Als sie und ihre Kolleginnen und Kollegen im September 2021 die neue Schule betraten, fühlten sie sich beklommen. Sie spürten die neuen Herausforderungen und Chancen.
Der Umzug in eine fremde Umgebung kann schwierig sein. In der ersten Woche waren die Kinder aufgeregt, aber oft auch verloren. Sie irrten umher und suchten ihre Klassenräume. Das Gebäude wirkte riesig und kalt. Franco erzählt, dass sie die Kinder oft an die Hand nahm und zum Unterricht begleitete.
„Lehrkräfte und Kinder gleichermaßen hatten Hemmungen, auch nur eine Reißzwecke in die Wand zu stecken“, erinnert sich Colombo.
Orientierungshilfe bekamen die Beschäftigten der Viscontini-Schule vom Bildungsforschungsinstitut INDIRE. Auch die Universität Mailand-Bicocca stand den Lehrerinnen und Lehrern zwei Jahre lang mit wertvollen Schulungs- und Beratungsangeboten – finanziert von der Stadt Mailand – zur Seite.
Ein Forschungsteam der Universität Mailand-Bicocca teilte Kinder und Lehrkräfte in Arbeitsgruppen ein, um gemeinsam die verschiedenen Möglichkeiten der neuen Labore, Klassenräume, Außenbereiche und Gemeinschaftsräume zu erkunden. „Wir brauchten diese fachliche Begleitung“, ist Franco überzeugt. „Ich weiß nicht, wie wir ohne sie zurecht gekommen wären.“
Die Gruppen testeten die neuen Möbel, probierten verschiedene Anordnungen in den Klassenräumen aus und holten sich bei anderen Schulen Inspiration. Die neuen Erfahrungen waren auch für die Lehrkräfte Anlass, ihren Unterricht zu überdenken.
„Die Unterstützung des INDIRE und der Universität Mailand-Bicocca war für uns extrem wichtig“, so Colombo. „Ich wünschte, wir hätten sie noch früher an unserer Seite gehabt. Dann wären wir besser auf die neue Schule vorbereitet gewesen.“
Auch die neuen Grünflächen werden von der Schule auf nicht herkömmliche Weise genutzt. Gärtnern verbindet die Kinder mit der Natur, aber es braucht das Engagement der ganzen Schule, damit Lernende und Lehrende sich die Zeit für die Pflege des Gartens nehmen können. Die Kinder suchen die Samen aus und beobachten dann, wie sie wachsen.
Unser Erfolg bemisst sich am Erfolg unserer Schülerinnen und Schüler
Zwei Freiluft-Klassenräume wurden in der Nähe von Hochbeeten eingerichtet, in denen im Mai Blumen blühten. Die Kinder waren in vielfältiger Weise – von der Planung bis zur Pflege – in die Gestaltung ihrer Outdoor-Klassenräume einbezogen.
„Wenn die Kinder müde werden und das Wetter passt, gehen wir im Garten Unkraut jäten“, erzählt Franco. Lernen im Freien ist für Kinder in vieler Hinsicht gut – es senkt das Stresslevel, hebt die Stimmung und verbessert die Konzentration.
Die Viscontini-Schule will ein Modell für beispielhafte Ideen und Methoden werden, die landesweit angewandt werden können. Es gibt jedoch kein Patentrezept für ein besseres Lernumfeld. Ein Konzept, das sich an einer städtischen Schule bewährt, kann in einem eher ländlichen Umfeld versagen.
Colombo und Franco fühlen sich in der Via Viscontini wieder zuhause. Allerdings haben sich ihre didaktischen Ansätze verändert. Einer der Grundsätze von „Constructing Education“ lautet Lernen findet überall statt. Deshalb müssen Schulen so ausgelegt sein, dass die Kinder immer und überall etwas lernen.
Durch die Flexibilität der neuen Räumlichkeiten können die Lehrerinnen und Lehrer auch stärker auf die individuellen Lernbedürfnisse eingehen. Kinder sollen im Unterricht nicht mehr still auf ihrem Stuhl sitzen und zuschauen. Sie sollen ihn aktiv mitgestalten, ihre individuellen Fähigkeiten einbringen und sich mit Themen beschäftigen, die sie zum Lernen motivieren.
„Unser Erfolg bemisst sich am Erfolg unserer Schülerinnen und Schüler“, erklärt Colombo.
Geschichten von Wandel und Wirkung sind der Europäischen Investitionsbank eine Herzensangelegenheit. Ich berichte über Menschen und Projekte in aller Welt, denen unsere Arbeit zugutekommt.