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Álvaro Arbina Díaz de Tuesta

IN KREATIVEM LICHT: GESCHICHTEN AUS OUARZAZATE
Autorentexte für die Europäische Investitionsbank gefördert durch die Nachbarschaftsinvestitionsfazilität der Europäischen Union


»Auf, es ist Zeit zu leben.«

Zwischen Casablanca und Ouarzazate, Marokko. UTC ±. Ortszeit 01:15 Uhr

Anmutig zieht die Nacht unter mir vorbei. Sie scheint der leisen Melodie aus den Flugzeuglautsprechern zu folgen, und trotz der Ferne – sie befindet sich dreitausend Meter unter dem Bauch der ATR 72, einer Turbopropmaschine für Inlandsflüge der Royal Air Maroc – gleitet sie geschmeidig dem Rhythmus folgend dahin. Natürlich ist das nur ein Trugbild meiner Fantasie; sie ist es, die die Klänge aus dem Flugzeug und die Bilder jenseits des Fensters verbindet und Musik und Nacht in einem harmonischen Tanz, in einer perfekten Symbiose verschmelzen lässt, obwohl die Nacht die Musik nicht hört und die Musik nicht für die Nacht gedacht ist. Das geschieht mir häufig, wenn ich mit Kopfhörern durch die Gegend laufe, und Passanten, Autos und sogar die Bäume nach den Songs von Bruce Hornsby oder Tracy Chapman oder den Soundtracks von Thomas Newman zu tanzen scheinen. Ich strecke die Arme aus und werde zum Bindeglied, zur Brücke, der Tanz kann beginnen.

Ich weiß nicht, warum ich die Nacht dort unten am Boden verorte. Die Nacht ist auch hier oben, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, sie hüllt den Flugzeugrumpf ein, das doppelwandige Fenster. Hier oben ist sie unscheinbar, weil ich sie nicht wahrnehme, aber dort unten tritt sie aus ihrer Unscheinbarkeit heraus, präsentiert von einem Meer an Lichtern, den wahren Tänzerinnen.

Versunken betrachte ich, wie die Lichter sich zerstreuen, wie sie die Galaxien, die Sternenhaufen, verlassen und sich einsam im Schwarz des Universums, im Landesinneren Marokkos, im Atlasgebirge und an den Rändern der Sahara verlieren. Klar erkennbare oder vage Punkte, gekrümmte Würmer, starre Linien, mal länger, mal kürzer. Die Lichter bilden unterschiedliche geometrische Formen, als blicke man durch das Okular eines Mikroskops auf eine Petrischale, einen kleinen Kosmos aus Zellen oder Häusern, Würmern oder Autos, Linien oder Straßen. Die Lichter unter uns sind reglos, aber die, die wir hinter uns lassen, die sich am Horizont kumulieren und bei denen man in der Tat von einem Lichtermeer, einer Galaxie, sprechen kann, mit sprechenden Namen wie Casablanca oder Rabat oder Marrakesch, funkeln wie die Sterne; es ist der Luftstrom, der mit seinen Turbulenzen und Druckveränderungen das Licht auf dem langen Weg zu meinen Augen erbeben lässt.

Ich halte meine Gedanken im Moleskine fest, ich spüre, dass es eine Reise ins Licht und ins Dunkel wird. Ich sehe mich um und glaube ein paar Reihen weiter hinten Luigi zu erkennen, der etwas in sein Handy tippt. Wir folgen einander auf Twitter. Ich entdecke ein vergilbtes Buch voller Anmerkungen und Haftnotizen. Nicht jeder liest Bücher auf diese Weise. Vielleicht gehört der auch zu unserem Grüppchen, denke ich. Es ist ein amüsantes Spiel sich vorzustellen, wer die anderen fünf europäischen Schriftsteller sind, die gemeinsam mit mir auf Reisen gehen. Begonnen habe ich damit in Casablanca auf dem Flughafen Mohammed V, während ich auf einem der Metallsitze saß und wartete, halb auf die Seiten von Lorenzo Silvas Reisebeschreibung Vom Rif nach Djebel Irhoud konzentriert und halb auf die Passagiere, die vor Gate 15 mit Ziel Ouarzazate Platz nahmen. Ich betrachte die Gesichter, die in die Lektüre oder die Bildschirme von Laptops oder Tablets vertieft sind, und versuche in ihren Mienen zu lesen. Ich konstruiere Fragmente ihres Lebens, dreist, schonungslos, und schreibe ihnen Rollen zu, die sie womöglich gar nicht verdient haben. Manchmal werde ich zum Erforscher fremder Leben, mithilfe des Blicks und der Lügen der Fantasie bahne ich mir mit Machetehieben einen Weg durch sie hindurch.

Sechs Schriftsteller. Eine Engländerin, eine Deutsche, ein Holländer, ein Italiener, ein Däne und ein Spanier. Eine perfekte Konstellation für eine Geschichte. Wir fliegen nach Ouarzazate, in die Wüstenstadt hinter dem Hohen Atlas, auf die andere Seite des jetzt unsichtbaren Massivs, wo die Sahara und das Herz Afrikas beginnen.

Noor. Das arabische Wort für Licht. So heißt einer der größten Solarparks, die weltweit gebaut werden. Im Gebiet Drâa-Tafilalet, etwa zehn Kilometer entfernt von Ouarzazate, gelegen, ist Noor eine Riesenanlage von etwa 3 000 Hektar, die ab 2018 Spitzen von 560 Megawatt oder mehr erzeugen kann, d. h. sie kann etwa 1,3 Millionen marokkanische Haushalte versorgen. Die Europäische Investitionsbank (EIB), einer der wichtigsten Geldgeber für das Projekt, hat uns eingeladen, die Anlage zu besuchen. Danach dürfen wir vollkommen frei über unsere Eindrücke berichten. Es geht nicht um eine journalistische Reportage, zumindest nicht in meinem Fall; ich bin von Haus aus Architekt und seit einem Jahr offiziell Schriftsteller, seit der Veröffentlichung meines ersten Romans, und inoffiziell, wer weiß, vielleicht schon von Geburt an oder seit dem Tag, an dem mein Vater mir die erste Geschichte vorgelesen hat, oder seitdem ich zum ersten Mal davon geträumt habe, Geschichten zu erfinden oder seit dem Tag, an dem ich mich als erprobter Schriftsteller fühlte, nachdem ich über Monate hinweg Tag für Tag an meinem Roman gearbeitet hatte, oder seit dem Tag, an dem ich ihn fertigstellte, oder vielleicht auch erst ein paar Tage später, als ich mich leer fühlte, ohne eine andere Geschichte, die meine ergänzt, und feststellte, dass ich mich daran gewöhnt hatte, mein Leben mit Schreiben zu verbringen.

Absolute Freiheit. Die genieße ich bei meinem Tun, glücklich wie ein Kind in freien Stunden. Auf einmal bricht die Musik in den Lautsprechern ab, und der Kapitän informiert uns, dass wir demnächst in Ouarzazate landen werden.

Neun Uhr morgens. Wir durchqueren die Stadt, die nur wenig mit dem zu tun hat, was wir gestern Abend auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel gesehen haben. Unwirtlich in der Dunkelheit, menschenleer im gelben Schein Straßenlaternen, unsichtbar jenseits der Gebäude, die die Straßen säumen, bereit, sich jede Nacht neu erfinden zu lassen, offenbart sie sich jetzt, am Tage, meinem Blick, der sich am Fenster des Land Rover festgesogen hat, und meiner Fantasie. Ouarzazate um zwei Uhr morgens war für den Reisenden, der es nicht kennt, eine zerfurchte Oberfläche, ein neues Gesicht, ein Blick, der für den Schriftsteller wie eine verführerische Andeutung ist: Das Bild eines Tischs, eines Stifts, eines fast leeren Blattes, auf dem die ersten Zeilen einer Geschichte stehen.

Die Dämmerung ist sanft. Der Morgen erwacht ohne Eile unter einem weißen Himmel, weiß nicht von Wolken, sondern von einer zerfließenden, gleißenden Sonne, die wie eine Kuppel aus Licht alles überdeckt. Die Temperatur ist angenehm, für uns Europäer ein perfekter Sommertag. Hier sind solche Tage die Regel und werden gar nicht wahrgenommen. Zumindest jetzt im Mai, in zwei Monaten, wenn die Sonne volldreht, ist die Hitze schon am Vormittag unerträglich.

In den Randgebieten werden die Häuser ärmlicher. Nackt stehen sie da, geben den Blick frei auf Beton und Ziegel, Löcher und schwarze Stützpfeiler, sie ähneln den Gebäuden einer zerbombten Stadt nach dem Krieg. Sie stehen in von der Landstraße abgehenden Gassen, und in der Ferne sieht man zwischen Abfällen und zum Trocknen aufgehängter Wäsche zuhauf menschenleere Hütten. Die gaußsche Kurve gilt hier wohl genauso wie in den europäischen Städten. Die Immobilienpreise werden zu den äußeren Ringen hin günstiger. Obwohl es natürlich immer Ausnahmen gibt, vor allem in einer Kolonialstadt, die unter französischem Protektorat als Verwaltungszentrum und Zollposten entstanden ist. Bald lassen wir Ouarzazate hinter uns. Aus den Lautsprechern in Mustafas Geländewagen tönt Tinariwen, eine Tuareg-Band; der Name bedeutet »Wüsten« in Tamascheck, einer der Berbersprachen. Der Wind weht durch die Fenster hinein, er lässt alles erbeben und seine warmen Wellen sind wie eine Dusche. Die Misbaha, die Gebetskette, baumelt am Rückspiegel. Das Buch meines holländischen Kollegen vibriert; Auke sitzt auf dem Beifahrersitz und blättert durch die Seiten mit den Haftnotizen. Diskret wippe ich mit dem Kopf den Rhythmus mit, Tina neben mir auf dem Rücksitz lässt sich auch vom Sound mitreißen. Sie lächelt mir zu, auf einmal sind wir eine verschworene Gemeinschaft. Die Gruppe aus Mali muss die Wüste gut kennen oder den Anblick der Wüste aus einem Geländewagen am Morgen an einem perfekten Tag für einen Europäer. Kaffee, Traubenzucker und der Nervenkitzel der Reise.

Zehn Kilometer sind es bis zum Solarkraftwerk Noor. Die Landschaft ist ein Intermezzo zwischen dem Atlas-Gebirge und der Sahara. Weder Sanddünen noch Berge. Ihre Farbe ähnelt verrostetem Eisen, es gibt felsige Erhebungen und Gesteinswände, Sandwolken erheben sich kurz unter der noch schwachen Brise, der Boden ist kompakt und steinig. Menschenleer erstreckt sich das Land ins Unendliche; nur hier und da taucht mal ein vertrocknetes Flussbett auf, bewachsen von Akazien und wildem Wein. Wie Riesen bohren sich die elektrischen Türme mit ihren Stahlkonstruktionen und dem Kabelgewirr in den Himmel; traurig verlieren sie sich in der Weite der Wüste wie eine Karawane, wie eine Reihe Gefangener. Die rote, steinige Landschaft erinnert mich an einen prähistorischen, lebendigen, nach Wasser und Grün lechzenden Mars, der vertrocknete, bevor er sich entwickeln konnte.

Mars. Der rote Planet. Von unserem Planeten sagt man, er sei blau. Das stimmt ja auch. Aber ich muss unweigerlich an das Satellitenbild denken, auf dem drei Farben miteinander konkurrieren: das Blau, der unangefochtene Spitzenreiter, mit klar definierten Grenzen, dazu das um Platz zwei konkurrierende Grün und Beige, manchmal arid rötlich Schimmernde mit diffusen Rändern, als wären sie aufgesprüht. Ich denke an all die wissenschaftlichen Studien von Experten, die ihr Leben der Forschung widmen, und mit einer Vielzahl von Argumenten vor der unübersehbaren Erderwärmung warnen: schmelzende Polkappen, der Anstieg des Meeresspiegels, immer neue Hitzerekorde, das veränderte Verhalten der Zugvögel. Und zugleich denke ich an die Handvoll Erleuchteter mit zu viel Macht, deren Wort mehr Gewicht hat als alle Studien der Welt:

»In New York gibt es Eis und Schnee. Da kommt uns die Erderwärmung gerade recht.«

Ich schmunzele, ich muss fast schon lachen bei der Vorstellung, wie eine Spraydose geschüttelt wird und die Kugel darin an die Wände schlägt. Ich kann die Farbe förmlich riechen. Nur sehen kann ich sie nicht, obwohl ich, mit meinen sechsundzwanzig Jahren schon leicht abgestumpft, eine Ahnung habe, wie der Wettstreit ausgehen könnte.

In der Ebene werden wir von der Solaranlage empfangen. Noor Ouarzazate Solar Power Station. Geschrieben auf Englisch, Arabisch, und Tamazight mit Buchstaben aus wetterfestem Stahl, die auf einem künstlichen Felsen befestigt wurden, der wie ein Denkmal anmutet. Die englische Version im Schrifttyp Arial, groß und klar. Die anderen beiden in ihrer eigenen Kalligraphie, die seit ihrer Entstehung gleich geblieben ist, unverwüstlich hat sie über die Jahrhunderte allen Kriegen, Eroberungen und Moden getrotzt. Die arabische Kalligraphie ist zeitlos wie gute Kunst, es gibt verschiedene Varianten wie die Naschi- oder die Kufi-Schrift, daneben noch das Diwani, das Maghribi und andere. Vielleicht bedeutet Kalligraphie auf Arabisch deshalb Kunst der Linie oder Schönschrift im Persischen. Wer sie erfunden hat – sofern so etwas überhaupt erfunden werden kann, denn mit Erfindung verbindet man im Allgemeinen die Vorstellung, dass jemandem plötzlich ein Licht aufgeht und nicht die einer langsamen Entwicklung – hatte jedenfalls einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik. Die Kalligraphie der Berber, das Tamazight, ist rauer, weniger verschnörkelt, aber ebenso geheimnisvoll wie die arabische.

Wir werden von einem Kontrollposten gestoppt, der etwas von einem Grenzübergang hat, so als würden wir ein anderes Land betreten. Zwei Betontürme mit dunkelrotem Stuck, passend zur Landschaft und den Lehmhäusern, zwei Eingänge und zwei mechanische Zäune, Überwachungskameras und andere Sicherheitsmaßnahmen. Marokkanische Soldaten in olivgrüner Uniform, Security, Autoschlangen; Ausweise und Pässe werden verlangt, es gibt kurze Befragungen. Dennoch herrscht eine gewisse Lockerheit im Umgang. Mustafa, unser Fahrer, scherzt mit dem Wachposten in der Berbersprache. Beide lachen entspannt wie alte Bekannte, wie Leute, die sich häufig sehen und sich die Monotonie ihrer Tätigkeit erleichtern wollen.

Wir passieren die Kontrolle. Unsere Gruppe besteht aus drei Geländewagen, die stets in einer genau festgelegten Reihenfolge fahren, wie die persönliche Eskorte eines Präsidenten. Schnurgerade führt die Straße ins Unendliche. Ich notiere sofort: Noor ist eine von Stacheldrahtzäunen umgebene Wüste. Ich rechne kurz. 3 000 Hektar. Meine Heimatstadt, Vitoria-Gasteiz, mit ihren zweihundertfünfzigtausend Einwohnern würde dort locker hineinpassen.

Meine Heimatstadt, Vitoria-Gasteiz, mit ihren zweihundertfünfzigtausend Einwohnern würde dort locker hineinpassen.

Noch ein paar Minuten Fahrt. Zu unserer Linken zieht Noor 1 vorbei, das erste Kraftwerk. Ich denke immer noch an den Mars. Aber jetzt an einen futuristischen, wenn die Schlacht der Sprayfarben auf der Erde entschieden ist. Ein von Menschen kolonisierter Mars, mit eigentümlichen, reflektierenden Bauten, wie in der letzten Szene von Christopher Nolans Film Interstellar. 537 000 halbmondförmige auf die Sonne ausgerichtete Solarspiegel in 400 Reihen. Der Anblick erschlägt mich. Die endlose Wiederholung verwandelt sich im Licht und im Dunst des Scirocco in ein virtuelles Bild, in das dreidimensionale Konstrukt eines Videospiels.

An der Universität hat man uns gelehrt, Dinge graphisch zu verdichten. Sie zu symbolisieren wie die Illustratoren. Ich kann nicht anders. Ein Halbmond ausgerichtet auf einen Stern. Das Symbol des Ottomanischen Reiches, dessen Hegemonie in der muslimischen Welt so groß war, dass es nicht selten mit dem Islam gleichgesetzt wird. Das Symbol par excellence des Mittleren Ostens, der Wüste, des Sonnenlandes. Genau das suchen wir hier.

Weiter hinten, ebenfalls auf der linken Seite sieht man Noor 2 und Noor 3, die sich noch im Bau befinden. Bevor wir diesen Teil besuchen, biegen wir rechts ab, wo allein auf weiter Flur ein modernes Gebäude steht, das MASEN-Center. Darin befinden sich die Büros der Marokkanischen Solarenergie-Agentur (MASEN), die das Projekt leitet und den ehrgeizigen Plan verfolgt, Marokko weltweit zum führenden Land auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien zu machen. In der Mitte ein prächtiges Foyer mit einem architektonisch beeindruckenden Hörsaal. Den krönenden Abschluss bildet ein Turm, von dem aus man das riesige Gelände überblicken kann. Wir werden für den Besuch mit Sicherheitsschuhen aus Spaltleder, weißen Helmen und reflektierenden Sicherheitswesten mit dem Schriftzug der Agentur ausgestattet.

Wir kehren zu den Autos zurück, wo Mustafa und die anderen Fahrer geduldig auf uns warten. Ein paar Minuten später erreichen wir die Einfahrt zu Noor 1. Wieder zwei Türme, zwei Zäune, Kameras, Security und Soldaten. Direkt dahinter steigen wir aus. Die Führung übernehmen die Verantwortlichen von MASEN, Salma und Yousra, die uns seit der Landung in Ouarzazate begleiten und dafür sorgen, dass wir uns um nichts zu kümmern brauchen. Sie sind effizient, zurückhaltend und souverän, als hätten sie schon viel gesehen und erlebt. Es überrascht mich vielleicht deswegen so, weil die beiden etwa in meinem Alter sind, und ich empfinde eine gewisse Bewunderung, und ein Quäntchen Neid, allein schon wegen der verantwortungsvollen Aufgabe, die sie hier zu stemmen haben, aber auch, weil sie minutiös und trotzdem flexibel planen können. Unser Wunsch ist ihnen Befehl, wie der, am anderen Morgen doch bitte erst um neun statt um schon acht zu starten:

»Es ist schon spät. Und wir brauchen morgen eine klaren Kopf«, hatte Tina nach der Landung um zwei Uhr morgens gesagt, und wir alle waren ihr für die offenen Worte dankbar, denn sie sprach uns aus der Seele.

Salma hatte nur gelächelt, »Kein Problem«, ein paar Telefonate, und der Zeitplan war angepasst, alles fließend, alles easy für uns, für die Gäste aus Europa, die sich zufrieden in ihre Betten begaben.

Wir werden von Tarik Bourquoquo empfangen, dem Verantwortlichen für die Planung und die Verfahrenstechnik. Auch er ist jung und er spricht ein klar verständliches Englisch – vor allem langsam, wofür ich ihm dankbar bin. Doch seine Eloquenz zeigt sich auch auf anderem Gebiet, denn seine Aufgabe ist es, uns in die Geheimnisse der Anlage einzuweihen, in die technischen Grundlagen mit all den Fachbegriffen, die er für uns ganz natürlich und einfach übersetzt. Für Tarik ist das Projekt Noor wie eine Verlängerung seiner selbst. Er kennt es wie seine Westentasche; nicht nur den Vortrag hält er souverän, er reagiert auch äußerst gelassen, als wir ihn mit unseren Fragen bombardieren, die wie Pfeile aus allen möglichen Richtungen auf ihn einprasseln. Aufnahmegeräte und Notizbücher werden gezückt. Ich fühle mich überrollt, ich bin bei weitem der Jüngste und Unerfahrenste bei der Expedition. Journalisten und Autoren von Reisebüchern können mit solchen Situationen umgehen. In meiner jugendlichen Naivität war ich mit der Absicht hierhergekommen einfach zuzuhören, mir Dinge anzusehen, ein paar Fotos zu machen. Als Notlösung zücke ich mein Huawai-Handy. Ich betätige die Aufnahmefunktion. Ich glaube, es war das erste Mal.

Wir blicken auf die Leitplanke der Straße, die mitten durch das Kraftwerk führt und es mit dem Kontrollzentrum verbindet. Vor uns das Heer an Parabolspiegeln.

»Sie nehmen die Sonnenstrahlung auf und leiten sie in die Rohre, daher die Parabolform«, informiert uns Tarik.

Er deutet auf die Absorberrohre aus Stahl und Glas in den Reflektoren, die ein synthetisches Thermoöl enthalten, das Heat Transfer Fluid (HTF), das durch die Rohre fließt und sich auf 398 Grad Celsius erwärmen lässt.

»Das HTC fließt durch die Rohre und nimmt die Solarwärme auf. Danach wird es durch Wärmetauscher gepumpt, die thermische Energie wird in Heißdampf umgewandelt. Der wird zu Turbinen geleitet, die an sie gekoppelte Generatoren antreiben, die ihrerseits die elektrische Energie ins Netz speisen.«

Vierhundert Reihen voller Spiegel folgen der Sonne auf ihrem Weg durch den Himmel wie Gläubige, die zu ihrem Gott beten. Es herrscht eine feierliche Stille. Man hört das multiple, sich in der Ferne verlierende Brummen der Motoren, die dafür sorgen, dass die Spiegel sich drehen. Das geschieht alle paar Minuten, sagt Tarik. In der Ferne erkennt man die Umrisse eines LKW und vier Arbeiter, die mit Wasser aus Pumpen die Reflektoren von Sand und den Überresten des Scirocco befreien. Der Wasserverbrauch ist hoch, 1,7 Millionen Kubikmeter pro Jahr, sie werden aus dem etwa zehn Kilometer entfernten Stausee El Mansour Eddahbi gewonnen werden. Zum zweiten Mal bin ich überwältigt. Die winzigen Arbeiter vor den Parabolspiegeln lassen einen umso deutlicher das ungeheuerliche Ausmaß der Anlage spüren. Die Reflektoren sind größer als ich dachte. »Jeder einzelne misst zwölf Meter«, bemerkt Tarik. Zwölf Meter. Und das über fünfhunderttausend Mal.

Wir kehren zu den Autos zurück. Mustafa und seine Kollegen lehnen plaudernd und rauchend an den Kühlerhauben. Aufmerksam öffnen sie uns die Türen, in ihren Gesichtern blitzt ein offenes Lachen.

»Good?«, fragt Mustafa.

Ich nicke, ebenfalls lachend, während die Klimaanlage bläst und die Motoren surren. Wir fahren weiter und steigen schon ein paar hundert Meter weiter wieder aus. Das Kontrollzentrum ist eine Insel in einem Meer aus Spiegeln. Eine quadratische, unübersichtliche Insel im Sonnenlicht, komplex wie die Anatomie des menschlichen Körpers. Nein. Vielleicht wäre es zutreffender und weniger verstörend, von einem Androiden zu sprechen, denn das sichtbare Gewebe, die Balken, Pfeiler, und die brummenden Maschinen, Turbinen, Ventile und Speichertanks haben eher den metallischen Glanz und die Geruchlosigkeit des Künstlichen. Dennoch haben sie zugleich auch etwas von der Unergründlichkeit des menschlichen Körpers, daher das Bild.

Tarik erklärt es uns sofort. Es handelt sich um das Herz von Noor 1. Er deutet auf die großen zylindrischen Tanks zwischen dem Gewirr aus Rohren, Pumpen und Gasemissionen. Es sind gigantische thermische Speicher, die dazu dienen, die Wärme einer eutektischen Salzmischung zu speichern (die vom HTC übertragene Wärme wird manchmal in den Salzen zwischengelagert, bevor sie eingespeist wird). Salze sind dafür weit besser geeignet als Flüssigkeiten, zudem ziehen sie sich, im Gegensatz zu Wasser, bei Abkühlung zusammen und minimieren so die Gefahr übermäßigen Drucks.

»Sie halten die Wärme über drei Stunden. So können die Turbinen auch nach Sonnenuntergang weiter Strom erzeugen. Ist keine Sonneneinstrahlung mehr vorhanden, wird der Vorrat nach und nach abgebaut, sie zirkulieren in einem Wärmetauscher, wo sie die Wärme ans Wasser abgeben, das dann, wie gehabt, als Dampf die Turbinen antreibt.

CSP, also Solarthermie, ist weniger verbreitet als Fotovoltaik«, erklärt Tarik weiter. »Es ist teurer, aber man kann damit eben auch nach Sonnenuntergang Strom erzeugen. Wenn die Nachfrage am größten ist.«

Wir nicken, machen Notizen, stellen Fragen. Dann steigen wir wieder in die Land Rover. Nach zweihundert Metern steigen wir wieder aus. Als ich noch Leistungssport betrieben habe, habe ich für diese Distanz zweiundzwanzig Sekunden gebraucht. Zweiundzwanzig Sekunden körperlicher Anstrengung, ein Sprint, mit dem ich Watt erzeugte. Der deutsche Bahnradrennsportler Robert Förstemann, Spezialist für Kurzzeitdisziplinen und berühmt für seine extrem muskulösen Beine, hat ein Experiment gemacht. Das Video fand wegen der überzeugenden Ergebnisse im Netz weite Verbreitung. Er verband sein Fahrrad mit einem Toaster, der für neunzig Sekunden siebenhundert Watt benötigt, um Brot zu rösten. Die Anstrengung des Athleten war beeindruckend, sein Herz schlug bis zum Anschlag, seine monströsen Beine traten in die Pedale, dass die Funken schlugen, um den Toaster mit Strom zu versorgen. Nach eineinhalb Minuten Strampeln lag er am Ende total erschöpft am Boden. Das Bild hat mich tief berührt: Einer der leistungsfähigsten Radrennfahrer der Welt liegt keuchend am Boden, nachdem er zwei Scheiben Brot getoastet hat.

Mein Magen knurrt, vielleicht weil ich gerade an die beiden Toastscheiben denke. Es ist 14 Uhr. Tarik spricht und ich stelle mir eine Million Robert Förstemanns vor, die gemeinsam strampeln, um den Spitzenwert von 580 Megawatt zu erreichen wie das Kraftwerk im Endausbau im Jahr 2018. Wir fahren zum MASEN Center zurück. Noor 2 und Noor 3 warten nach dem Mittagessen auf uns.

Bahadurpur, Bundesstaat Punjab, Indien UTC + 5:30. Ortszeit 19:30 Uhr

Yamir liebt die Nacht. Und die Nacht kommt früh nach Bahadurpur. Die Berge färben das Tal, ihre Schatten verdrängen das Licht wie in einem Kampf von zwei Armeen, der dunkle Streifen wandert langsam auf und ab, unerbittlich wandert er durch die Gassen, die Innenhöfe, in alle Schlupfwinkel, bis er das Dorf eingenommen hat; er dringt durch jeden noch so kleinen Fensterspalt und verkündet, dass die Nacht Einzug gehalten hat.

Doch Yamirs Sympathiebekundung für die Nacht ist nicht ganz aufrichtig, sein Begehren ist flüchtig, so springt er von einer Mannschaft zur nächsten, mal sollen die Delhi Daredevils, mal die Mumbai Indians, dann wieder de Rajasthan Royals aus Jaipur die Premier League im Cricket gewinnen. Es war nicht so, dass ihm die Nacht vorher missfallen hätte, sie war ihm nur verständlicherweise gleichgültig, weil sie allgegenwärtig war, alltäglich, etwas worüber er nicht nachdachte, auch wenn sie Bahadurpur mehr Leid als Freud beschert.

Abends dehnt sich der Bazar mit seinem Stimmengewirr und den lauten Rufen der Händler beschaulich über die Hauptstraße aus. Blökende Schafe, Kuhglockengebimmel, die Leinenmarkisen flattern im kalten Wind aus den Bergen, bei dem man das Gefühl hat, er wehe einen direkt von den Schnee bedeckten Gipfeln an. Aus der Dunkelheit der Straße treten die Stände hervor, trübe, gelblich eingefärbte Umrisse von Waren, Stände, die unter bauchigen Häusern aus verwaschenen Ziegeln im Nichts zu schweben scheinen. Fliegenschwärme surren um die Kerzen und die Benzin- und Öllampen herum, die Helligkeit spenden und zudem nach raffiniertem Öl riechen, ganz wie es die Fliegen mögen. Auch die Fliegen sind flatterhaft und würden sofort zur nächsten Lampe weiterziehen, wenn der Geruch dort verlockender wäre. Auf dem Bazar vermischen sich die vielfältigsten Gerüche. Gebratenes Lamm, Knoblauch, Zwiebeln, Safran, Kardamom, Seife, Leder. In Wellen dringen sie in Yamirs Nase, aber nur am Anfang des Tages, wenn sie sich auszubreiten beginnen. Später nimmt er sie nicht mehr wahr.

Im Bazar von Bahadurpur gibt es keine Menschenmassen, außer am Diwali- oder am Teej-Fest. Die Leute kommen tröpfchenweise, verschwommene Silhouetten, bunte Saris, ehrwürdige Dhotis, Gesichter, die im Licht der Stände Kontur gewinnen. Einige schlendern nachdenklich umher und werfen einen Blick auf Yamirs Waren, ohne sich zu entscheiden; andere, die Stammkunden, treten mit zielgerichtetem Blick, einem respektvollen Salam oder Namasté, ein wenig Small-Talk, an den Stand und wählen aus dem Sortiment an Trockenfrüchten und Gewürzen aus, Chili, Paprika, Ingwer und vieles mehr. Auf dem Bazar von Bahadurpur führen die Verkäufer ein kontemplatives Leben. Yamir beobachtet, wie seine Kollegen, die vorbeiziehenden Menschen, die Geschäfte, die Konkurrenz und die Angebote an den Ständen. Er stellt sie sich als eine endlose Menge von Zahlen, von Wahrscheinlichkeiten vor, wie Figuren auf einem Brett, auf dem das Angebot des Händlers und die Interessen und Bedürfnisse des Kunden das Spiel bestimmen. Manchmal fühlt er sich wie ein geheimer Stratege, wie ein Schachspieler, obwohl er keine Ahnung von Mathematik, von Türmen, Läufern, Königen und Damen hat. In der Grundschule hatte er einen kurzen Einblick bekommen. Lehrer Raktim hatte ein kleines, zusammenklappbares Brett mit Plastikfiguren mitgebracht und die Schüler der Klasse darum versammelt.

»Vishy, der große indische Spieler, hat den Titel Großmeister erhalten«, hatte er gesagt, und das hatten sie gefeiert, indem er ihnen die Grundzüge des Schachspiels näher brachte.

Das L-förmig springende Pferd. Daran kann sich Yamir noch erinnern. Er hat nur an dem einen Tag gespielt, und es ist schon lange her. Jetzt beobachtet er den Bazar von Bahadurpur.

Erhalten und Verführen, das sind seine Strategien. Erhalten will er sich die treuen Kunden. Er lächelt, fragt nach, merkt sich die Details, die sie aus ihrem Leben erzählen, er versucht weder übertrieben freundlich noch zu kurz angebunden, unhöflich oder schroff zu sein. Potenzielle Kunden verführt er. Denn einige sind wie Piraten, wie Handelsschiffe ohne Flagge, die mal am Stand der alten Anjali mal an dem von Hasari Bhan oder an dem von Kalu Rai einlaufen. Manchmal kommen auch Touristen, und der Bazar füllt sich mit khakifarbenen Hüten, Ray-Ban-Brillen, Treckingschuhen und rosiger Haut. Die Busse spucken sie in Wellen aus, sie flanieren einmal die Straße rauf und runter, besichtigen die Moschee und dann werden sie wie an einer Angelschnur aufgereiht wieder eingeladen. Plötzlich, wie bei einer Explosion, überall ekstatisches Geschrei, Stimmgewirr und hastiges Feilschen. Zwanzig Minuten lang drängen sich die Touristen in der Straße, wechseln Dollars den Besitzer, und die Preise steigen um das Zehnfache. Doch nicht jeder lässt sich von dem Tumult anstecken, es gibt Verkäufer wie Yamir, die sich für die gegenteilige Strategie entscheiden: Sie verwandeln ihren Stand in eine Oase der Ruhe. Viele Touristen möchten gerne ungestört einkaufen, ohne sich bedrängt zu fühlen. Exakt zwanzig Minuten später kehren die Stille und monotone Ruhe nach Bahadurpur zurück.

Keiner hat ein Patentrezept, wie man an Dollars kommt. Aber in einem Punkt sind sich alle einig: Die Touristen kaufen nicht gerne, wenn es dunkel ist. Sie sagen, die Nacht in Bahadurpur sei ihnen zu schwarz, die tiefschwarze Nacht mache ihnen Angst.

Vielleicht weil sie Dinge verbirgt, die den Touristen unbekannt sind. Als Yamir noch ein Kind war und keine Ahnung von der Welt hatte, war das Tal für ihn ein geheimnisvolles Wesen, von dem er nicht genau wusste, wie es aussah, nur dass es Arme und Beine und eine Stimme hatte. Es zeigte sich nur nachts und wanderte wie eine umherirrende Seele durch die verlassenen Gassen des Dorfes, wenn alle anderen außer ihm schliefen. Er kauerte in seinem Bett, während ihm das Tal über den durch Ritzen und Kamine pfeifenden Wind oder über den gegen die Fenster schlagenden Regen oder das Blöken, Muhen und Glockengebimmel aus den Bergen seine Fantasiegeschichten zuraunte. Achtundzwanzig Jahre lebt er in dem Tal. Wenn Yamir jetzt seinen Blick über den Bazar schweifen lässt, kennt er all die Dinge, die sich hinter der Nacht verbergen. Er kennt auch das Labyrinth der Fantasie, deren Künstler die Kinder und deren Leinwände die Nacht sind. Vielleicht werden die Touristen in Bahadurpur wieder zu Kindern.

Yamir bedient einen Kunden. Einen Piraten ohne Flagge am Mast. Er lockt ihn mit einer Prämie aus Safran, obwohl er nicht in Rupien, sondern mit einer Portion Puffreis und drei Bidi, hörnchenförmige Zigaretten aus Tabak und Kendu-Blättern, bezahlt. Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, er verschwindet hinter dem von der Decke hängenden Licht, das im Wind hin und her weht, ein Licht, das leuchtet und nicht riecht, das keine Fliegenschwärme anzieht und so ungefährlich ist, dass es sich nicht entzünden oder die Menschen in ihren Häusern im Schlaf töten kann.

Seit fünf Tagen liebt Yamir die Nacht. Wie ein herausgeputzter Verehrer wartet er darauf, dass die Nacht kommt, als hätte er mit ihr ein Techtelmechtel. Wenn alles dunkel wird und der Muezzin aus den Lautsprechern zum Magrib-Gebet ruft, zündet er sie an. Seine jüngste Errungenschaft. Eine Solarlampe mit LED-Licht, Aluminiumreflektor und 8,4 Volt. Man hat ihm für den Kauf ein Darlehen von fünfzig Dollar gewährt, aber er schätzt, dass er dank der Lampe jeden Abend zweihundert Rupien, etwa vier Dollar, mehr einnimmt. Yamir ist ein Pionier im Bazar von Bahadupur. Andere werden ihm schon bald folgen. Seine Lampe zeichnet keine gelblich trüben in der Nacht schwebenden Umrisse. Seine Lampe erzeugt eine Blase aus reinem Licht, eine Oase ohne wirre Fantasiegebilde, in der die Touristen keine Angst haben müssen.

Ouarzazate, Marokko, UTC ± 00:00. Ortszeit 15:30 Uhr

Es gibt noch keine Türme mit dunkelrotem Stuck. Nur Stacheldraht und durch den Staub verblasste rot-weiße Zäune. Und zwei Anzeigetafeln:

Noor 2: 2. Solarwärmekraftwerk. Betriebsstunden: 4.464.794. Sicherheit geht alle an.

Noor 3: 1. Solarturm. Betriebsstunden: 4.580.530. Denke sicher. Arbeite sicher. Sei sicher.

Der Kies knirscht unter den Reifen der Geländewagen. Auf der anderen Seite des Fensters sieht man hinter einem Schleier aus Staub und einem Netz aus Zäunen Heerscharen von Arbeitern, mehrheitlich Chinesen und Marokkaner, mit leuchtend roten, gelben oder orangefarbenen Westen, Helmen und Sicherheitsschuhen, Ohrschützern, Thermoskannen und Gurten, an denen Hämmer und Lederhandschuhe baumeln. Sie steigen aus alten Omnibussen, stechen und verschwinden zwischen den Schuppen aus verzinktem Stahlblech. Die Straße verliert sich in der Ferne, schnurgerade, wie alles hier. Noor 2 zur Linken. Noor 3 zur Rechten. Wir halten vor den Kontrollposten. ACWA Power in Ouarzazate steht am Eingang. ACWA, mit Sitz im saudi-arabischen Riad, ist ein Spitzenunternehmen im Bereich erneuerbare Energien und Entsalzungsverfahren, die für Länder mit massiven Dürreproblemen wie Marokko äußerst wichtig sind; zweiunddreißig Kraftwerke werden weltweit von ihm betrieben und geleitet. Es ist nicht der einzige Gigant bei dem Projekt. Neben MASEN und ACWA sind spanische Unternehmen beteiligt wie Sener Ingeniería y Sistemas S.A. und Acciona S.A. im Bereich Materialbeschaffung und Bau oder auch TSK Electrónica y Electricidad S.A. Die Thermo-Fluids werden von Dow geliefert und die Turbinen von Siemens. Tarik erwähnt das nur so nebenbei, und ich habe das Gefühl, das ist nur die Spitze des Eisberges, wahrscheinlich wird selbst noch die kleinste Schraube von einer Spezialfirma gefertigt. Ich stelle mir alle großen Firmen der Welt auf einem Fest vor. Und überall hört man den Satz:

»Ah, ja. An Noor sind wir auch beteiligt.«

Ganz zu schweigen von den Investoren. Eine Reihe internationaler Organisationen haben sich beteiligt, um die neun Milliarden Dollar aufzubringen, die für das Projekt vonnöten waren. Ein Gefühl von Globalität, von weltweiter Vernetzung, von internationalen Geldströmen kommt in mir auf. Hier wird eine Größe spürbar, die etwas bewegt, die Größe der Menschheit, und für einen Moment wird mir die Dimension des Wortes Menschheit bewusst; viele Menschen haben alle ihre Anstrengungen auf etwas konkret Sichtbares konzentriert, auf etwas, das uns alle angeht: ein Zukunftsprojekt. Wie in Interstellar oder anderen futuristischen oder Science-Fiction Filmen, wo sich Menschen über alle Rassen und Länder hinweg für eine gemeinsame Aufgabe vereinen; meistens geht es darum, die Erde zu retten. Im Kontrollzentrum berichtet man uns ausführlich darüber. Mehr, wir sehen es mit eigenen Augen. Ingenieure, wildes Tastaturgeklapper, Pläne, Berechnungen, Bildschirme mit Daten und Grafiken, die für einen Laien völlig unverständlich sind. Die Atmosphäre ist geprägt von Ernsthaftigkeit, Verantwortung, Fleiß. Man empfängt uns im Besprechungsraum an einem großen Tisch mit bequemen Sitzmöbeln aus Leder. Die Klimaanlage surrt über meinem Kopf. Hier sitzen wir nun, Salma, Yousra, Tarik und sechs Schriftsteller, von denen einige auch journalistisch tätig sind. Eine ältere, gebeugte Frau mit Kopftuch serviert uns Tee und Kaffee. Schüchtern, aufmerksam, sie spricht unsere Sprache nicht. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat, verschwindet sie. Ein unerwarteter Auftritt in diesem filmreifen Projekt, bei dem Ridley Scott oder Christopher Nolan Regie führen könnte.

Deon, der Verantwortliche für Umweltsicherheit von ACWA Power, heißt uns willkommen. Er geht um den Tisch herum und begrüßt jeden mit Handschlag. Er ist um die fünfzig, groß, korpulent, erfahren, er hat Projekte in Südafrika, Vietnam, Dubai und Marokko geleitet; er hat die halbe Welt bereist, um die Energie der Zukunft voranzubringen, während die Welt sie verpulvert, ohne groß darüber nachzudenken. Vielleicht ist ihm das bewusst, aber in seinen blauen Augen liegt das Funkeln der Begeisterung für die großartigen, globalen Projekte, und vom ersten Moment an gelingt es ihm in seiner freundlich zugewandten Art, diese auch auf uns zu übertragen. Nach der Verabschiedung besichtigen wir den Komplex.

»Marokko hat sich verpflichtet, 40 Prozent seines Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Ab 2030 sogar 50 Prozent. Somit werden nicht nur die Treibhausgase reduziert – wir sprechen von 3,7 Millionen Tonnen CO2 –, sondern das Land befreit sich auch zunehmend aus seiner extremen Energieabhängigkeit; Marokko bezieht 95 Prozent seiner Energie aus dem Ausland.«

Das Land möchte die Entwicklung der erneuerbaren Energien in Afrika vorantreiben. Es gibt Stimmen, die sagen, genau darin läge die Zukunft des Kontinents, in seinem Reichtum an Solar-, Wind-, Wasser- und geothermischer Energie, die sich exportieren lässt, mit der er aber vor allem die Energieknappheit bekämpfen könnte, die ihn wie eine Epidemie aushungert.

Die Geländewagen warten auf uns, geduldig und stets zu Diensten. Der Expeditionstrupp hat sich vergrößert, denn zwei Dacia Duster Geländewagen von ACWA Power fahren vor uns her. Staubwolken wirbeln auf, und wir fahren zunächst in die Straßen mit den Reflektoren von Noor 2. Bei der großen Schwester von Noor 1 handelt es sich ebenfalls um ein Parabolrinnenkraftwerk, nur auf 750 Hektar Fläche statt 450, und mit 200 Megawatt Leistung statt 160. Der thermische Speicher ist hier noch ausgeklügelter, die Energie kann nach Wegfall der Sonneneinstrahlung fünf statt nur drei Stunden gespeichert werden (bei Noor 3 sogar sieben Stunden). LKW und Kettenbagger von Caterpillar schnauben wie kleine Dickhäuter vor den riesigen Reflektoren. Wir erreichen das Herzstück der Anlage. Das Kontrollzentrum, die riesige Insel mit ihren Tanks, Pumpen und Stahlkonstruktionen, alles erst in der Anfangsphase. Wir umfahren das Ganze im Schritttempo. Es herrscht hektische Betriebsamkeit; hunderte, tausende von Arbeitern, die in Zwölf-Stunden-Schichten unter der sengenden Sonne arbeiten, im Hintergrund erheben sich die Gipfel des Hohen Atlas wie die rötlich schimmernde versteinerte Wirbelsäule eines Reptils aus der Trias. Schwarze Zelte stehen da, die schattige Zuflucht für die Pausen und das Mittagessen bieten, man sieht Stahlverbinder, Träger, Kabel, und Kräne, die so hoch in den Himmel ragen, dass ich mein Gesicht schon gegen die Scheibe drücken muss, um ihre Spitzen sehen zu können. Es ist ein riesiges Unterfangen, als wollte man hier eine ganze Stadt errichten.

Im Auto herrscht gedankenverlorene Stille. Sogar die fröhliche, extrovertierte Tina ist wie gebannt. Unsere Expedition verlässt, ein Geländewagen nach dem anderen, mit 20 Stundenkilometern den surrealistisch anmutenden Themenpark, das zyklopische Unternehmen im Stil von Jurassic Park.

Noor 3 ist, auch wenn es direkt an Noor 1 grenzt, keine Schwester, sondern eine entfernte Kusine. Das System ist ein anderes. Es handelt sich um ein Solarturmkraftwerk mit Solarturm und Heliostaten. Das Bild göttlicher Anbetung verstärkt sich hier noch: 7 400 flache, bewegliche Reflektoren, die sich auch nach der Sonne ausrichten, aber die Strahlung direkt auf die Spitze des hohen Turms reflektieren. Mit 250 Metern ist er der höchste Solarturm Afrikas, erklärt Tarik. Wie bei einer Kongregation von Gläubigen in Mekka sind die 7 400 Heliostaten in konzentrischen Kreisen zum Turm hin angeordnet. Sie sind auf großen Betonpfeilern befestigt, die sie bis zu fünfzehn Metern anheben. Der Aufbau der Heliostaten ist komplex: Träger, Kabel, Sensoren, Infrarotkameras. Die Temperatur soll bei 700 Grad Celsius liegen. Wir steigen aus. Zwischen den Pilastern pfeift die Brise des Scirocco. Man kommt sich vor wie in einer riesigen Plantage, denn von wo man auch schaut, es ist alles perfekt harmonisch aufgereiht. Tariks Worte klingen nach Abschied. Noch ein Foto von der Expedition und ein paar Dankesworte. Er hat seine Aufgabe bestens erfüllt: Er hat uns den geheimnisvollen Code von Noor näher gebracht, der in seiner Komplexität dem menschlichen Körper in nichts nachsteht, und ihn auch für einen unwissenden Normalsterblichen verständlich erklärt.

Zwischen den Pilastern pfeift die Brise des Scirocco. Man kommt sich vor wie in einer riesigen Plantage, denn von wo man auch schaut, es ist alles perfekt harmonisch aufgereiht.

Bezirk Vallecas, Madrid, Spanien. UTC + 01:00. Ortszeit 18 Uhr

Scherengeklapper in der Grundschule von La Fuente. Die Kinder schneiden Figuren aus Heften aus. Taxis, Krankenwagen, Hunde, Kinderwagen, Opas mit Stock, Gefriertruhen, Kühlschränke, Fernseher. Jedes Kind hat sein eigenes Heft. Editorial Anaya steht auf dem Umschlag und auf den Seiten aus dickem Papier, die noch ausgemalt werden müssen; die Arbeit wird am nächsten Tag mit Filz- und Buntstiften fortgesetzt. Die Bilder sind nicht beliebig verteilt. Sie sind zu Themenblöcken geordnet, hat die Lehrerin gesagt. Blöcke, ja genau, wie Eisblöcke. Zu Beginn der Stunde haben sie sie laut wiederholt. Dinge für den Haushalt. Dinge von der Straße. Dinge für Kinder. Dinge für Erwachsene.

Die Kinder kommen zur Ruhe, während sie die Figuren ausschneiden. Kein Gekreische, kein Geschrei. Nur das friedliche Stimmgewirr von Kindern, die sich unterhalten, während sie fasziniert dem Geräusch der Pappe beim Zerschneiden lauschen, das sich anhört, als würde man sanft in einen Apfel beißen.

»Mein Vater hat ein Glasauge.«

»Mein Vater auch.«

»Mein Vater nimmt es nachts heraus und legt es in ein Wasserglas. So trocknet es nicht aus, und er kann am nächsten Morgen wieder arbeiten gehen.«

»Meine Mutter und ich, wir spielen bei Kerzenlicht.«

Die Lehrerin beaufsichtigt die Arbeit der Schüler, die ihre ausgeschnittenen Figuren nach Gruppen sortiert aufeinander legen, wie die Sammelsticker und Sammelkarten von Panini. Sie geht zu Silvia, die munter mit ihren Freunden plaudert.

»Spielst du immer noch bei Kerzenlicht mit deiner Mutter, Silvia?«

Das Mädchen schneidet ein Fahrrad mit einem Korb am Lenker aus, in dem sich Gemüse und zwei Baguettes befinden. Sie nickt.

»Ja, gestern Abend, als wieder das Licht ausging.«

»Geht das Licht oft bei euch aus?«

»Ja, in der Karwoche für fünf Tage. Aber Mama lässt mich nie die Kerzen anzünden.«

Der Gong ertönt, und die Ruhe zerbirst wie eine Scheibe, die von einem Ball getroffen wird. Einmal ist die Fensterscheibe des Klassenraums zerbrochen, der zum Garten hinausgeht und in der Schusslinie des Bolzplatzes liegt. Die Kinder waren in der Pause, und es wurde niemand verletzt, aber sie hatten alle die Glaskaskade gehört. Stühle quietschen auf dem Boden, Gummis von Heftern schnalzen, Hefte werden zugeklappt und die Figuren geraten durcheinander, trotz der Mahnung der Lehrerin:

»Morgen müsst ihr sie wieder neu sortieren.«

Die Kinder stehen auf und packen ihre Sachen, als hätten sie Federn unter den Beinen, die durch den Gong aktiviert werden. Geschrei, Gerenne, Radau in den Fluren. Silvia hat den Raum schon mit ihren Freunden verlassen.

Am Ausgang warten die Eltern. Sie unterhalten sich, einige haben es sichtlich eilig. Jenseits des Zauns, in der Avenida de Albufera, parken die Autos wie aufgefädelt in zwei Reihen. Die Kinder mit ihren kleinen Rucksäcken zerstreuen sich vor der Tür auf der Suche nach ihren Eltern. Silvia entdeckt ihre Mutter bei den Gartenhecken. Sie lacht ihr zu und Silvia zeigt ihr das Fahrrad, ihr Lieblingsbild. Stolz hält sie die Trophäe des Tages mit beiden Ärmchen in die Höhe, damit ihre Mutter sie auch ja sieht. Die schmunzelt nur.

»Sollen wir das zuhause anmalen?«

»Nein«, sagt Silvia. »Das machen wir morgen in der Schule.«

Silvias Lehrerin taucht auf, die Arme über dem buntkarierten Kittel gekreuzt. Auch sie hat einen suchenden Blick, wie die Kinder, nur ist sie nicht so ungestüm. Als sie Silvia und ihre Mutter in der Menge entdeckt, geht sie die Treppen hinunter. Es ist ein schöner Nachmittag, und vor der Schule herrscht fröhliches Treiben. Silvia steckt das Pappfahrrad vorsichtig in den Rucksack, damit der zarte Korb samt Brot und Gemüse nicht abknickt. Wenn sie es morgen angemalt hat, wird sie es an ihrer Zimmertür anbringen. Ihre Mutter und die Lehrerin sprechen über sie hinweg, mit den kleinen Flüsterworten der Erwachsenen. Alejandra kommt an der Hand ihrer Mutter vorbei. Triumphierend lächelt sie Silvia mit ihren vielen Zahnlücken zu. In ihrer Hand blitzt ein Sammelsticker von Super Wings. Es ist Dizzy, das Helikoptermädchen. Silvia bekommt den Mund nicht mehr zu, sie ist überrascht und auch ein wenig neidisch.

»Du hast sie jetzt alle?«

»Ja, die ganze Sammlung. Als erste in der Klasse.«

»Gegen wen hast du sie getauscht?«

»Gegen Roy, den hatte ich doppelt.«

Alejandra zeigt ihr den Sticker, Silvia bewundert ihn kurz und dann verabschieden sie sich. Silvia sieht ihnen nach, den Blick auf den Dizzy-Sticker gerichtet. Sobald Alejandra zuhause ist, wird sie ihn in ihr Album kleben, das ist dann komplett. Silvia sammelt auch, aber nur hin und wieder und kommt dadurch wesentlich langsamer zum Ziel. Sie wünscht sich Sticker zum Dreikönigstag oder zum Geburtstag und verzichtet dabei manchmal auf andere Geschenke, nur damit sie sich auch mal wie Alejandra fühlen kann, die immer welche doppelt und dreifach hat.

»Wolltest du nicht eigentlich einen Parfumbaukasten?«, hatte ihre Mutter an Weihnachten gefragt.

Alejandra ist ihre Freundin. Als sie heute auf dem Hof Plumpsack spielten, hatte sie Silvia nach ihrem Vater gefragt. Oder besser gesagt, sie hatte vor den anderen Kindern ausposaunt: Silvia hat keinen Vater. Und sie hatte nichts erwidert, was auch, sie hatte sich bislang nicht groß damit beschäftigt. Aber sie hatte sich ein wenig über den Satz geärgert, warum genau wusste sie nicht, und sie hatte auch nicht weinen müssen, aber es hatte nicht mehr viel gefehlt. Iker hatte gemeint, Tamara habe auch keinen.

»Doch«, hatte Tamara gesagt. »Er lebt nur nicht bei uns.«

Ihre Mutter zerrt sie zum Ausgang. Silvia tippelt schneller, um nicht zurückzubleiben, und ihre Zöpfe tanzen auf den Riemen des Rucksacks und auch der wippt, dass die Hefte aneinanderschlagen. Ihre Mutter reicht ihr ein Mortadella-Brötchen. Silvia beißt im Gehen hinein.

»Morgen aber Nutella.«

»Das sehen wir dann.«

Auf der Straße herrscht ein Mordslärm. Man hat den Eindruck, die Avenida de Albufera sei eine Ader voller Hupen und Motoren. Wie leuchtend bunte Pfeile schießen die Autos vorbei. Silvia spürt den bebenden Luftstrom, einen nach dem anderen, flüchtig, fast schon ineinander übergehend. Es riecht nach Benzin. Die Autos sind auf dem Weg vom oder ins Zentrum von Madrid, das wie eine riesige Legostadt aus Sandsteinziegeln wirkt, ein Wohnblock wie der andere; einförmige Blocks aus Wohnungen, nicht aus Eis oder wie die Themenblöcke in den Heften. Den Pirulí sieht man von überall, er überragt alles. Der Fernsehturm bohrt sich in den Himmel, der morgens erst schmutzig gelb aussieht und nach und nach zum Blau hin aufklart.

Ihre Mutter zerrt sie über die Straße. Die Ampeln flackern, dazu hört man Töne wie aus einem Videospiel, während die Leute über die Straße gehen und die Autos warten. Zebrastreifen sind wie Hängebrücken im Gebirge. Das Weiße: die Holzbretter. Das Schwarze: der Abgrund zu einem steinigen Flussbett. Silvia hüpft im Takt des Gedudels von Weiß zu Weiß, ohne das Schwarze zu berühren oder die Hand ihrer Mutter loszulassen.

»Mami, warum habe ich keinen Vater?«

Silvia blickt zu ihrer Mutter hoch, aber deren Gesicht ist zu weit weg, und hinter dem langen Haar verborgen, das auf ihren Schultern ebenfalls tanzt. Der Bürgersteig wird breiter: Bogengänge, Café-Terrassen, Hunde, die an den Wasserlöchern der Bäume schnüffeln, Herrchen, die in ihren Smartphones stöbern. Silvia hat die Hand ihrer Mutter losgelassen und läuft hinter ihr her.

»Mama.«

Sie bleibt unvermittelt stehen, setzt sich mit vor der Brust gekreuzten Armen auf eine Bank. Sie wartet darauf, dass ihre Mutter sich umdreht. Ein Vierbeiner kommt auf sie zu und riecht an ihrem Brötchen.

»Mama!«

Ihre Mutter dreht sich um, kommt zurück, nimmt ihre Hand und zieht sie hoch.

»Gehen wir in die Bücherei?«

»Ein anderes Mal. Heute müssen wir uns beeilen.«

In der Stadtbücherei zeigen sie Kinderfilme. Wie im Kino, aber ohne Kinosessel, ohne Sitzerhöhung, ohne Kassen, ohne Schlangen, ohne Eintrittskarten. Man geht einfach hinein, wie zuhause, und muss nicht nach einem nummerierten Sitzplatz suchen. Im Winter nimmt ihre Mutter sie nach der Schule immer mit in die Bücherei, damit sie dort ihre Hausaufgaben macht. Dann ist es draußen dunkel und es regnet, oder es weht ein kalter Wind oder eisiger Nebel verleiht den Laternen etwas Verschwörerisches, als verbärgen sie ein Geheimnis, das eines Tages entschwinden wird. Silvia beobachtet sie dann vom Fenster der Kinderbuchabteilung aus, während sie in einer Ecke zwischen Regalen in Comics von Marvel, in Gregs Tagebuch oder in Fantastische Tiere und wo sie zu finden sind blättert. Unter dem Fenster befindet sich ein eingeschalteter Radiator. Auf den setzt sich Silvia gern ohne Mantel, ohne Mütze und ohne Handschuhe. Bis sie sich fast ihre Hosen versengt, aber so weit lässt sie es nicht kommen. In der Bücherei ist der wärmende Radiator immer an.

Ihre Mutter übersetzt unterdessen an den frei zugänglichen Computern. Ohne die knallbunt geringelten Wollhandschuhe, die vorne offen sind. Und ohne Mantel, die beiden Pullover und den Poncho aus Alpakawolle, die sie immer in Schichten übereinander trägt, wenn sie an Winterabenden zuhause übersetzt.

Silvia mag die Handschuhe ihrer Mutter.

»Warum haben sie Löcher?«

»Damit die Finger auf den Tasten nicht wegrutschen.«

Laut Wörterbuch heißt übersetzen, etwas in einer anderen Sprache wiedergeben. Und wiedergeben heißt sagen. Je älter sie wird, umso mehr fühlt sich Silvia als Übersetzerin, wie ihre Mutter. Manchmal lauscht sie den kleinen Flüsterworten der Erwachsenen. Manche schlägt sie im Wörterbuch nach, andere vergisst sie gleich wieder. Die Worte, die sie findet, lassen sie nach weiteren suchen, als wären es Äste eines Baumes, die sich immer weiter verzweigen. Einmal sagte sie zu ihrer Mutter, sie würde auch übersetzen.

»Was übersetzt du denn?«

»Die Sprache der Erwachsenen.«

Ihre Mutter schmunzelte, wie sie es oft tat, wenn Silvia etwas sagte.

»Und in welche Sprache?«

»In die von Gregs Tagebuch. «

Zuhause auf dem alten Toshiba schreibt ihre Mutter mit den Handschuhen mit den Löchern. Zehn knallbunte Lollies, die flink über die Tasten fegen. Biegsam wie Schlangen und nicht eiskalt, während der alte Computer wie ein altes Rhinozeros schnaubt. Sie nutzt ihn an den Wochenenden, wenn die Bücherei geschlossen hat, oder unter der Woche, wenn sie um 20 Uhr schließt und sie noch Papiere zu übersetzen hat. Sie legt dabei im Wohnzimmer Schallplatten mit Musik von John Lennon auf. Ihre Mutter arbeitet gern bei Musik, aber nicht immer. An manchen Tagen macht sie nicht mal den Computer an und übersetzt handschriftlich vor, um es am nächsten Tag in der Bibliothek abzutippen.

»Leg A day in the life auf, Mama.«

»Heute nicht, Silvia.«

Sie packt Silvia auf dem Sofa immer unter die Federbetten. Silvia kuschelt sich ein und liest in den ausgeliehenen Büchern, sie weiß, dass es außerhalb ihres Iglus kalt ist, denn wenn sie ausatmet, kommen Dampfwölkchen aus ihrem Mund, wie auf der Straße. Wenn sie trotz der Decken immer noch friert, legt ihre Mutter ihr Kirschkernkissen auf den Bauch, die sie vorher in der Mikrowelle erwärmt hat.

Heute fällt der Büchereibesuch aus, Silvia weiß nicht warum. Sie gehen rasch, die Avenida Albufera haben sie vor einer Weile hinter sich gelassen und die kleinen Straßen ihres Viertels erreicht, wo es keinen Verkehrslärm gibt. Man hört nur hin und wieder das Motorengeräusch eines Autos, das einparkt oder aus einer Garage kommt, ansonsten nur Kindergeschrei und Hundegebell. Silvia fühlt sich irgendwie mitgezogen. Ihre Mutter grüßt einen Nachbarn, der ihnen an der Haustür den Vortritt lässt. Ihre Wohnung liegt im ersten Stock. Die Kleidung auf dem Bügel schlägt immer gegen das durchsichtige Küchenfenster. Farben, die nach draußen wehen, als wäre das Viertel in Festlaune. Alejandra sagt, es würde bei ihnen komisch riechen. Doch Silvia findet das nicht, für sie riecht es eher bei Alejandra zuhause komisch. Das Wohnzimmer ist vier Meter lang und drei Meter breit. Das Schlafzimmer ist ein wenig kleiner. Sie schlafen gemeinsam in einem Bett, das so groß ist, dass sie sich manchmal gar nicht finden.

Silvia ist acht Jahre alt. Ihre Mutter zweiunddreißig und arbeitet.

Silvia sieht, wie sie die Kühlschranktür öffnet, seit gestern brennt darin kein Licht mehr und er kühlt auch nicht mehr. Flaschen, Gläser und Dosen klirren angesichts des plötzlichen Überfalls auf ihr weißes Reich; Silvia stellt vor, es sei wie der Nordpol, nur dass es dort immer dunkel ist und kein Mond am Himmel steht, bis die Tür aufgeht. Ihre Mutter nimmt die Insulinspritzen heraus, die Silvia benötigt, seit sie Hunger und Durst verspürt und das erste Mal ins Bett gemacht hat, seit sie zum Arzt gegangen sind und der eine Menge Untersuchungen gemacht hat.

Insulin. Auch das hat sie im Wörterbuch nachgeschlagen, aber der Baum ist zu groß, er hat zu viele Äste. Und so hat sie die Suche auf später verschoben.

Ihre Mutter steckt die Spritzen in eine Plastiktüte und verlässt die Wohnung, die Tür lässt sie offen. Silvia beobachtet sie durch den Spalt. Man hört eine Klingel. Ihre Mutter wartet vor der Tür von Mercedes, einer alten Nachbarin, die immer in Pantoffeln und Morgenrock, mit Schürze und mit Lockenwicklern im grauen Haar angeschlurft kommt. Ihre Mutter steht mit der Tüte ganz dicht an der Tür, angespannt, als wäre es ihr unangenehm, dass einer von den anderen Nachbarn sie durch den Spion sehen könnte. Vier Wohnungen gehen auf den Treppenabsatz hinaus. Mercedes öffnet die Tür und nach einer kurzen Erklärung, die Silvia nicht hört, überreicht ihre Mutter ihr die Tüte. Ihre Mutter kommt ihr gebeugt, in sich zusammengesunken vor, und auf einmal wirkt sie ebenso klein wie die Nachbarin. Ernste, feierliche Worte, Dankesworte, die kleinen Flüsterworte der Erwachsenen.

Silvias Mutter kehrt zurück.

Sie kommt ins Zimmer und schließt die Tür. Das macht sie manchmal, und Silvia hat gelernt, dieses Sich-Einschließen zu deuten, es zu übersetzen, auch wenn es für diese Sprache kein Wörterbuch gibt. Sie versucht sich die Zeit zu vertreiben, sie liest, spielt mit den Okto Plantschis, macht Hausaufgaben und malt die Anaya-Hefte aus. Und wenn ihre Mutter den Raum verlässt, folgt sie ihr auf Schritt und Tritt, während sie Abendessen macht oder das im Wohnzimmer herumliegende Zeug einsammelt. Still und geduldig folgt Silvia ihr, bis ihre Mutter sich umdreht und sie ihr die Arme entgegenreckt. Ihre Mutter seufzt und hebt sie hoch. Dann flüstert Silvia ihr schöne Sachen ins Ohr, sie gibt ihr einen Kuss, macht ihr Zöpfe oder eine Hochsteckfrisur oder manchmal streicht sie ihr einfach nur übers Haar. Das gibt ihr das Gefühl, dass sie für ihre Mutter da ist.

Ouarzazate, Marokko, UTC ± 00:00. Ortszeit 18:00 Uhr

Sechs Uhr abends. Das Berbere Palace Hotel ist eine Zitadelle, eine befestigte Oase, mit wehrhaften Festungstürmen und Mauern mit Zinnen, die mich an mittelalterliche Burgen in Europa erinnerten, wären da nicht die Ornamente und das nachgemachte rosafarbene Pisee. Eine Empfangshalle mit hoher Decke, das Rezeptionspersonal im Livree, sehr zuvorkommend, getäfelter Marmor, Kacheln und bunte Mosaike, säuselnde Springbrunnen. Im Innern, wie in einer Kashba der Berber, ein einladendes, verwinkeltes Netz aus künstlichen Gassen, in denen die Palmen im Wind schaukeln, Lehmhäuschen, Patios, Galerien, stillen Ecken und Teichen mit kühlem Nass, in dem man sich nicht verirren kann. 405. Das ist mein Zimmer. Ein zwanzig Quadratmeter großer Raum, mit Sebkas verzierte Türen, ein kleiner, von hohen Mauern eingefasster Patio, von dem aus man in der Nacht den Himmel betrachten kann. Wüstenhimmel, schön und verwundet, wie von einem Pfeilregen durchsiebt. Im Salonteil ein Sofa mit islamischen Motiven, Früchte und Bilder von Frauen in traditionellem Gewand. Zwei Bäder, zwei Fernseher, und zwei riesige Klimageräte, die röhren wie Dinosaurier.

Bevor mich die Müdigkeit übermannt oder ich mir ihrer bewusst werde, nehme ich den Bewegungsmangel des Tages zum Anlass, joggen zu gehen. Ich ziehe mich um. Ein T-Shirt, eine kurze Hose und Turnschuhe. Sonst nichts. Uhren, Armbänder oder Ohrringe muss ich nicht ablegen. Ich trage keine. Mein Körper ist unversehrt, keine Tattoos, keine Ohrlöcher. Das mag nach Enthaltsamkeit klingen, doch es ist nicht das Ergebnis eines ehernen Prinzips, das sich auf einen Wahlspruch reduziert, auf ein selbst auferlegtes Gebot als Lebensnorm: Ich will so leben, wie ich auf die Welt gekommen bin. Nein. Es ist einfach so gekommen, ohne Vorsatz, unbewusst. Vielleicht werde ich irgendwann Surfer und pflastere meine Haut mit Tattoos und exotischen Armbändern aus geflochtenem Leder zu. Oder ich werde Punk und lasse mir die Ohrläppchen durchstechen. Aber um ehrlich zu sein, in manchen Momenten überkommt mich ein Gefühl nahezu vollkommener Erfüllung, von Seelenreinheit, mich so zu spüren, wie ich auf die Welt gekommen bin. Das geschieht nicht, wenn ich nackt bin. Das geschieht, wenn ich an heißen Tagen durch Gebirgswälder laufe und den Wind und den kühlen Schatten der Bäume direkt auf meiner Haut spüre. Wenn ich ohne T-Shirt laufe, nur mit Hose und Turnschuhen bekleidet.

Ich jogge gemütlich durch die Avenue Mohammed VI beim Hotel. Breit, lang, trocken, ohne Verkehr, ohne Menschenmassen, in der angenehmen Luft eines Gebiets mit Wohnhäusern und Hotels, fernab vom Lärm, dem Chaos, den Gerüchen und dem in Marokko alltäglichen Körperkontakt. Am Ende der Avenue taucht die Kashba von Taourirt auf, am Tor zur Wüste, wo sich über Jahrhunderte Kaufleute und Händler aus dem Atlas-Gebirge und dem Drâa- oder dem Dadestal getroffen haben. Das heutige Ouarzazate entstand als französische Garnisonsstadt in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und diente als Verwaltungszentrum des Protektorats. Dann kam das große Geschäft mit den Kinofilmen, und die Atlas Studios, Ouarzazate diente in unzähligen Filmen als Drehort und Double für andere Regionen wie Tibet, Rom, Somalia oder Ägypten. Lawrence von Arabien, Gladiator, Babel, Königreich der Himmel, Jesus von Nazareth wurden hier gedreht.

Meine Beine und mein Pumpwerk, wie ich mein Herz und meine Lunge nenne, sind wach, aktiv, und ich spüre, dass ich direkt lossprinten könnte, ohne mich aufzuwärmen. Es weht eine warme Brise, die Sonne ist schwächer geworden und beginnt sich rot zu färben, die Umgebung ist perfekt. Ich lasse mich treiben, ich weiß nicht, wo ich hinlaufe, ich habe mir den Stadtplan nicht angesehen, ich merke mir nur, wo ich vorbeikomme, damit ich den Weg zurück finde.

Ich stürze mich in die Fluten der Stadt. Und ich sage an dieser Stelle bewusst »stürzen«. Es beginnt das Tohuwabohu der Gassen, mit ihrem Verkehr, den Schrottkisten, den Fahrrädern und Mopeds, auf denen sie zu zweit oder dritt sitzen und der Fahrer in sein Handy schaut. Ich sage »stürzen«, denn es ist wie in einem Pool, aber kein Eintauchen oder sanftes Brustschwimmen in der Wellenbewegung des Wassers. Es ist ein wilder Kopfsprung, bei dem man den Aufprall und die kurze Benommenheit spürt, das raue, aufschießende Wasser, das sich von deinem Körper spalten lässt, weil er es wie ein Torpedo durchschneidet. Eintauchen ist wie spazieren gehen. Sich hineinstürzen wie rennen.

Häuser aus Lehmziegeln mit Tür- und Fensterstürzen und Stützpfeilern aus Palmholz, Fenster schmal wie Zinnen, düstere Gänge, Bürgersteige voller Menschen, Händler, die lautstark ihre Ware anpreisen, Gemüse und Tomaten, blass und unförmig, weit weg von der glänzenden künstlichen Perfektion der Supermarktware, krumm wie alles, was aus der Erde kommt und nicht aus dem Labor. Frauen mit Burka, Frauen mit Tschador, Frauen mit Hidschab, Frauen, die ihre Religion in sich tragen und nicht nach außen, Frauen ohne Religion. Männer, die nach dem Asr-Gebet Tee trinken; sie sitzen mit ihren dampfenden Tassen mit Minzeblättern draußen an den Tischen und kippen sich das heiße Gebräu in den Rachen. Jüngere Männer, die voll im Saft stehen, mit trägem, finsterem Blick, die an den Wänden lehnen und das Leben an sich vorbeiziehen lassen, als würden sie etwas von ihm erwarten, obwohl sie in ihrem tiefsten Innern die Hoffnung längst aufgegeben haben. Hittistes werden sie genannt, Wandsteher. Sie sind wie die Stützpfeiler aus Palmholz. Sie erinnern mich an die jungen Leute in Spanien, die in andere Länder auswandern, um einer kaputten Jugend zu entfliehen.

Kinder spielen in Trikots von Real Madrid, des FC Barcelona oder Bayern München Fußball auf Plätzen aus Schotter und Sand mit selbst gebastelten Toren: Zwei Holzpflöcke und ein in der Mitte durchhängender Querbalken aus zusammengeknoteten Tüchern und alten Schals. Voller Bewunderung bleibe ich einen Moment stehen. Sie spielen geschickt, als hätten sie Magneten an den Füßen, ernst, voller Hingabe, bei heiklen Situationen diskutieren sie, einen Schiedsrichter gibt es hier nicht. Die Kicker wirbeln dichten Staub auf, sodass ich die Partie nicht genau verfolgen kann. Und ich denke an all den vielen Staub, den sie einatmen, nicht nur an dem Abend, sondern auch an dem davor, jeden Tag, das ganze Jahr über. Und dann denke ich an den wiederkehrenden Husten von Mustafa, vielleicht spielt auch er gern Fußball, vielleicht hat auch er auf Schotterplätzen gespielt. Und bevor ich gehe, als die Jungen mich bemerkt haben, den jungen Europäer, den sie für einen Sportler halten, vielleicht für einen Talentscout, denke ich an all die Jungen, die gerade irgendwo in Afrika Fußball spielen, an all die potenziellen Messis oder Ronaldos, die auf Schotterfeldern mit Toren mit Querbalken aus Tüchern Wunder vollbringen, ohne zu wissen, wie glatt es auf dem Rasen ist; ich denke an all die kleinen Jungen, die hittistes von morgen, die an der Wand lehnen und das Leben an sich vorbeiziehen lassen.

Ich laufe weiter. Mit mehr Tempo jetzt, wieder Richtung Hotel. Ich laufe und denke an die Kinder. Ich laufe, bis ich nicht mehr an sie denke und mich ganz dem Laufen hingeben kann. Und allmählich steigere ich das Tempo. Ein Hügel, zweihundert Meter bis zur Kashba von Taourirt. Die Autos röhren neben mir, nahe am Bürgersteig. Irgendwann laufe ich neben einem Marokkaner, der gebeugt auf dem Fahrrad sitzt und strampelt, was das Zeug hält. Ich lächle ihm zu. Er lächelt zurück.

»Come on! Come on!«, feuere ich ihn an. Er lächelt noch breiter, strampelt noch kräftiger und versucht mir zu folgen.

Ich passe mich dem Hügel an und mache kleinere schnellere Schritte. Ich gebe Gas und laufe ihm davon. Meine Oberschenkelmuskeln brennen, sie warnen mich, dass sie bald taub werden, wenn die Anstrengung nicht nachlässt. Oben angekommen, geht es wieder abwärts, eine Wohltat für meine Beine. Der Marokkaner holt mich breit grinsend ein und rauscht an mir vorbei, ohne in die Pedale zu treten, um ihn herum die wie Dieselmoskitos brummenden Autos. Zum Zeichen des Sieges hebt er die Faust.

»Poweeer!«, ruft er.

Ich lache und hebe ebenfalls die Faust, bevor er im Tumult der Straße verschwindet. Bald strebe ich auf die Avenue Mohammed VI zu, mit fast zwanzig Stundenkilometern, vollkommen entfesselt. Noch drei Minuten in dem Tempo und ich kollabiere. Meine Lungen pfeifen. Sie fühlen sich an wie prallgefüllte Ballons, wie Blasebalge. Ich spüre meine Atmung und das Blut, das kraftvoll durch die Adern gepumpt wird und sie anschwellen lässt, ich spüre das ganze funktionierende Räderwerk, wie das eines lebenden Androiden, wie das Herz einer Solaranlage. Das ist Laufen: Man lässt die unbewusste Trägheit des Lebens hinter sich, der Körper atmet, pulsiert, funktioniert einfach.

Wenn man läuft, fällt es einem leichter zu lachen. Es fällt einem leichter zu weinen. Es fällt einem leichter, wütend zu werden, zu schreien, Gefühle zu zeigen, zu spüren. Als wäre es eine Frage von Pulsschlägen, von Rhythmus, von Blut, das die Gefühle durchströmt und sie belebt, sie aufscheucht und ermutigt:

»Auf, es ist Zeit zu leben.«

Ich fühle mich berauscht, wie nach einem Schuss, in der Woge der Glückseligkeit des Drogensüchtigen, vage, ohne Transzendenz. Aber berauscht nicht im Sinne von benebelt, zugedröhnt. Nein. Berauscht im Sinne von stimuliert, erfrischt, innerlich gereinigt, während der kräftige warme Strahl der Dusche auf meinen Rücken, meinen Nacken, in mein Gesicht prasselt. Rötliche Lichtstrahlen dringen durch das Fenster herein, erfassen meinen Kopf und enthüllen die Dampfwolken, die seit einiger Zeit das Bad erobert haben. Ich bin so entspannt, dass ich kein Ende finde. Aber irgendein vager Gedanke aus dem nicht fassbaren Strom des Bewusstseins motiviert mich, den Hahn zuzudrehen. Ich verlasse die Dusche, zögere einen Moment, welches Handtuch ich nehmen soll, das vom Morgen oder ein frisches. Ich weiß nicht, wie spät es ist, ich weiß nicht, wie lange ich unter der Dusche stand.

Ich fühle mich entspannt, und das bin ich auch während des Abendessens im Hotel mit meinen Schriftstellerkollegen. Italienisches Essen auf der Terrasse, mit einem lauen Lüftchen, Kerzen, Palmen, beleuchtetem Pool und Personal, dem nichts entgeht und das sofort zur Stelle ist, um die Gläser aufzufüllen. Abendessen zu 230 Dirhams, ungefähr 23 Euro pro Person. Wir sind eingeladen, nur den erlesenen französischen Wein, den unser dänischer Kollege Carsten mit kundigem Gaumen ausgewählt hat, müssen wir selbst zahlen. Eine angenehme Zusammenkunft, bei der wir über die Highlights des Tages sprechen und uns über unsere Erfahrungen austauschen, wobei ich eher als Zuhörer in Erscheinung trete, zum einen, weil die anderen schon deutlich mehr erlebt haben, und ich aus deren Erfahrungen viel für mich mitnehmen kann, und zum anderen, weil ich mit meinem Englisch nicht unbedingt punkten kann. Und so erfahre ich vieles über die Schriftstellerei und alles drum herum, über die Projekte von Liz, der Engländerin, die einen Sohn in meinem Alter hat, und die mir als erfahrene Frau mit Tiefgang von ihren Welten und ihren Figuren erzählt, wobei ihre Augen funkeln, als wäre sie gerade mal fünfzehn.

Ich gehe auf mein Zimmer. Ich verspüre eine gewisse Bettschwere. Unter dem Sternenhimmel wandele ich durch die Gassen des Hotels. Ich denke an Noor, an die elektrischen Türme, die wie festgebundene Riesen zur Wüste, zum Atlas, zum Meer hin aufragen. Ich denke an die Energie, die Wärme, das Licht, das sie heute aufgenommen haben, ich denke an das Summen, daran, wo es wohl landet, wo es nicht landet und wo es vielleicht eines Tages landen wird.

Ich gehe in die Falle, wie mein Großvater zu sagen pflegte, hundemüde, doch als ich den Lichtschalter betätige, geschieht dasselbe wie immer: Eins der vielen Lichter im Hotelzimmer bleibt an. Ich stehe wieder auf und begebe mich auf die Suche nach dem Schalter.

Maracaibo, Venezuela. UTC - 04:00. Ortszeit 23:15 Uhr

Man hört ein Klicken. Es ist der Schutzschalter. Noch ein kurzes Pochen, das war's. Das Stromnetz ist zusammengebrochen. Wieder mal.

Seufzer, Verwünschungen, Flüche gegen die Regierung hallen durch den Flur, auf dem es schlagartig still geworden ist. Anfänglich kommt Unruhe auf, bis die Patienten und Angehörigen sich an die Dunkelheit und das unvermittelte Ausbleiben der Signale und des allgegenwärtigen Summens gewöhnt haben. Den Stromausfall selbst hört man kaum, von einer Sekunde auf die andere herrscht Stille, aber María hat den Eindruck, das Geräusch würde langsam auslaufen, wie die Sirene eines Krankenwagens, bei dem die Batterie streikt.

Sie erhebt sich von ihrem Platz vor der Säuglingsstation am Ende des Flurs. Sie legt die Arme übereinander auf ihren flachen Bauch, sie hat sich schon daran gewöhnt, dass die empfindliche, straffe Kugel verschwunden ist. Sie wird regelrecht kribbelig, bis ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt haben und sie wieder etwas sieht.

»Arm reicht nicht, jetzt machen sie uns auch noch zu Fledermäusen. Ein Land voller Fledermäuse.«

Hört man jemanden sagen. Es ist ein junger Mann mit nacktem tätowierten Oberkörper, der an einem Tropf hängt. Seine raue, heisere Stimme übertönt das Gemurmel im Flur.

Hier und da blinken rote Lichter. Handytaschenlampen werden aktiviert. Weiter hinten, wie Lichtinseln, die Buchstaben NOTAUSGANG. Man gewahrt die Umrisse der abgestellten Betten, der Rollstühle, die sitzenden, liegenden, auf ihre Infusionsständer gestützten Patienten. Die Medikamente haben die Angehörigen selbst auf dem Schwarzmarkt oder in einer der Apotheken mit leeren Regalen gekauft. Sie drängen sich zusammen wie Treibgut an den Ufern eines Flusses und machen den Gang frei für die Krankenschwestern mit Latexhandschuhen und ihren kurzen Kitteln. Die Schwestern kontrollieren intravenöse Zugänge, leisten einsamen Patienten Gesellschaft, überprüfen, ob alles seinen gewohnten Gang geht.

Jemand öffnet ein Fenster am anderen Ende des Flures, kühle Nachtluft weht herein und mit ihr das Raunen der Straßen, der Lärm der Hupen und Hundegebell. Ohne Licht wirkt die Stadt reglos, gelähmt. Man hört sie nur, wie ein Blinder, als säße man vor einem Radio, und das Krankenhaus steht einsam mittendrin.

»Lass uns hineingehen.«

»Warte, bis sie uns aufrufen.«

María schaut durch die Fenster der Doppeltür zur Säuglingsstation. Dahinter nichts als Nacht, tiefschwarze Nacht, ohne Mond, ohne Sterne. Sie versucht die Inkubatoren, die Apparate, die Kabel, die Krankenschwestern ausfindig zu machen. Es ist nichts zu erkennen. Andere Mütter scharen sich um sie und ihre Sorge, und sie hält die geballte Unruhe der Mütter mit Frühchen, von denen einige an Beatmungsgeräte angeschlossen sind, nicht mehr aus. Sie löst sich von der Gruppe, ihr Oberkörper ist zusammengesunken, als bekäme auch sie nicht genug Luft.

Hugo sitzt da und beobachtet sie, eine qualmende Zigarette in der Hand.

»Warte, bis sie uns aufrufen.«

Seelenruhig stößt er seine Rauchschwaden aus, und schaut in den Flur. Ihm ist es schon immer leicht gefallen sich anzupassen. Für ihn wird alles schnell zur Routine: die Krise, die Arbeitslosigkeit, die leeren Geschäfte, die politischen Diskussionen im Fernsehen, die täglichen Proteste, die Repressionen von Chavez' Schlägertrupps, der Mangel an Medikamenten und das fehlende Öl für die Generatoren der staatlichen Krankenhäuser in einem Land, das in Erdöl schwimmt.

Hugos Gleichgültigkeit ist eine feste Größe, die María einerseits bewundert, andererseits aber auch verurteilt und hasst. Sie hütet sich, es offen auszusprechen, aber manchmal zeigt sie es durch einen vorwurfsvollen Blick oder wütende Ausflüchte. Hugo bekommt das sicher mit, aber mit dem ihm eigenen Phlegma geht er allem aus dem Weg, auch wenn María den Eindruck hat, dass die absolut willkürlichen und sinnlosen Wutausbrüche hin und wieder eine Reaktion darauf sind. Früher hatte sie es für einen Schutzpanzer gehalten, den Hugo, der Junge vom Land, ohne Vater und mit vier Schwestern aufgewachsen, gegen die Schläge des Lebens entwickelt hatte, und dafür hatte sie ihn bewundert. Das ist jetzt nicht mehr so. Vielleicht sieht sie ihn jetzt nicht mehr mit den Augen der frisch Verliebten, für die alles einen Zauber hat.

Wenn sie ihn jetzt, nach einer Blitzhochzeit und sieben Monaten Schwangerschaft, mit den hängenden Schultern unter dem gestreiften Hemd und der Kippe dasitzen sieht, so klein und nichtig auf dem dunklen Flur, strahlt er nicht mehr Stärke, sondern Resignation aus.

»Beim letzten Mal sind drei Babys gestorben«, sagt sie.

»Ja, von denen, die beatmet werden. Unser Fredy schafft das aus eigener Kraft.«

María wendet den Blick ab und atmet die eigentümliche Krankenhausluft ein, eine Mischung aus Desinfektionsmittel und Uringeruch aus der Geriatrie, die Luft ist zum Schneiden, sie hat das Gefühl, sie muss sie förmlich herunterschlucken. Sie kann es nicht ertragen, ihn so niedergeschlagen, fast schon abgestumpft zu sehen. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, die Warterei macht jeden fertig. Auch ihn, der seinen Hintern nicht vom Stuhl hebt, und den Eindruck erweckt, als säße er nach dem Essen gemütlich am Tisch. Manchmal ist ihr Hugo einfach zuviel, er zerrt an ihren Nerven wie kein anderer, das schaffen weder ihre Eltern, noch ihre Freundinnen, noch die Kinder in der Schule mit ihrem Geschrei und ihrer Ungezogenheit. Es ist wie eine allergische Reaktion auf das Zusammenleben. María atmet noch tiefer ein, und schiebt die Angst vor der Zukunft, das eheliche Schwindelgefühl, beiseite.

Es ist der fünfte Stromausfall. Der fünfte Stromausfall seit Fredy in der dreißigsten Woche mit 1.900 Gramm und einer Größe von 40 Zentimetern geboren wurde. Zwei der Ausfälle, der letzte erst heute Morgen, zogen sich eine Stunde hin.

»Kommen Sie, Señoras.«

Es ist die mollige Krankenschwester, die das Ehepaar am Abend zuvor kennen gelernt hat. Die Flügeltüren zur Frühgeborenenstation klappen hinter ihr noch auf und zu. María lässt alle Luft aus ihren Lungen. Hektik kommt auf, mehrere Mütter behindern sich gegenseitig, weil sie als erste hineinwollen, aber dann verhalten sich alle wieder gesittet. Auch María kann es nicht erwarten, sie reckt den Hals und blickt in die schwarze Öffnung des Raums. Langsam bewegt die Reihe sich vorwärts, und bevor María hineingeht, dreht sie sich noch einmal um. Hugos Blick überrascht sie. Offen, allein auf sie gerichtet. Seine Augen funkeln in der Dunkelheit. Er ist sogar aufgestanden.

Der Raum mit den Frühgeborenen ist wie eine Wärmekapsel. Wohlig, ruhig, still. Es ist eine Wohltat, dort einzutreten. Doch die Nervosität, die Eile, und die unruhigen Blicke, mit denen eine jede Mutter nach ihrem Baby sucht, lässt keine Zeit für solche Gedanken. Sie verteilen sich zwischen den ausgeschalteten Inkubatoren, bei manchen ist das Glas kaputt und sie tragen ein Schild Außer Betrieb. Die Monitore mit den Vitalparametern sind ebenfalls gestört, man sieht weder Herzfrequenz, noch Blutdruck- oder Körpertemperaturanzeige, lediglich schwarze Bildschirme und blinkende Warnlichter.

Krankenschwestern kümmern sich um die Kinder an den Beatmungsgeräten. María betrachtet die Kleinen voller Sorge, wie beim ersten Mal: Winzig und zerbrechlich, liegen sie mit geschlossenen Augen in ihren gläsernen Urnen, isoliert, als stünden sie unter Quarantäne, ihre Lungen sind noch unreif, zart wie dünne Papiertütchen. Die Krankenschwestern pumpen per Hand über den Insufflator mit Sauerstoff angereicherte Luft in die Schläuche. Ihre Bewegungen sind rhythmisch, konstant, sie wechseln sich ab, um zwischendurch ein wenig ausruhen zu können; sie sind angespannt, lassen sich aber nicht aus der Ruhe bringen. An den Schweißperlen auf ihrer Stirn sieht man die Anstrengung.

Fredy liegt mit geschlossenen Augen und Wollmütze allein in seinem Inkubator. Seine Händchen zucken wie bei einer Marionette, als würden sie von einem Motor angetrieben. Vielleicht spürt er die Hektik, die fehlende Wärme oder die ansteigende Feuchtigkeit in der Kapsel, in der man sich nicht mehr wohlig wie im Mutterleib fühlt. Eine Krankenschwester kommt und öffnet die sterile Polsterung. Ihre Hände greifen in die gläserne Urne und ziehen die Schläuche aus Fredys Nase.

»Sie können ihn jetzt in den Arm nehmen, Señora.«

Maria kommen die Tränen, obwohl es schon das fünfte Mal ist, dass sie gerufen wird, um ihn im Dunkeln zu halten und ihm Wärme zu spenden. Man nennt es die Känguru-Methode. Sie nimmt den nahezu schwerelosen kleinen Körper wahr, die welken, kraftlosen Muskeln, die zarte, durchscheinende Haut, unter der man die Adern erkennen kann. Sie weiß nicht, warum sie weint, aber sie spürt, dass ein tiefer, warmer Strom in ihre Augen steigt. Die Hormone spielen nach der Geburt verrückt, heißt es, in einem Moment himmelhoch jauchzend, im nächsten zu Tode betrübt. Vielleicht erlebt sie es in dem Moment zum ersten Mal, als sie ihn fest an sich drückt und spürt, wie er sich zusammenrollt und einkuschelt und anfängt, sich in ihren Bauch zu graben, als wollte er hineinkriechen. Bei Stromausfall sucht jedes Kind die Nähe zur Mutter.

(Übersetzung Sabine Giersberg)