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Mehr als zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling stehen der Nahe Osten und Nordafrika vor epochalen Herausforderungen. Erst würgte die Coronapandemie die Wirtschaft ab, dann erschütterte der russische Einmarsch in die Ukraine die Region: Hohe Energiepreise, Risiken für die Ernährungssicherheit und Einbußen im Tourismus waren die Folge. Hinzu kommt der Klimawandel mit seinen Gefahren. Aber schwierige Zeiten bieten auch Chancen auf Wandel zum Besseren – etwa im Privatsektor. Er bleibt die Hoffnung vieler junger Menschen und hat das Potenzial, die Region mit nachhaltigem Wachstum in eine grünere Zukunft zu führen.

Der Bericht

Der Bericht beleuchtet die Lage des Privatsektors in der sogenannten MENA-Region, dem Nahen Osten und Nordafrika. Für die Analyse wurden zwischen Ende 2018 und 2020 – also weitgehend vor der Pandemie – über 5 800 formelle Unternehmen in Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Tunesien, im Westjordanland und im Gazastreifen befragt.

Die Erhebung folgt der Methodik der Weltbank für Unternehmensumfragen. Ihre Ergebnisse sind für die Länder repräsentativ und von großem Wert für die Region, in der ein erheblicher Datenmangel herrscht. Sie sind mit den Befunden einer vorherigen Befragung aus dem Jahr 2013 vergleichbar. Damit gibt erstmals eine Unternehmensumfrage in der Region Aufschluss darüber, wie sich die Dinge zwischen zwei Zeitpunkten verändert haben. Die Ergebnisse liefern auch neue Informationen über die grüne Wirtschaft und über Verbindungen der Unternehmen zur Politik.

Neun Forschungsarbeiten wurden auf Grundlage dieser Daten erstellt. Sie befassen sich mit verschiedenen Aspekten des Privatsektors. Der vorliegende Bericht, der gemeinsam von der Europäischen Investitionsbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und der Weltbank veröffentlicht wurde, liefert eine zusammenhängende Analyse auf Basis der Ergebnisse dieser Studien.

Die Länderdaten sind auf enterprisesurveys.org veröffentlicht.

Wirtschaftsleistung und Geschäftsumfeld

Die Länder der MENA-Region kämpfen mit einem schwierigen makroökonomischen Umfeld und einem anhaltend niedrigen Wachstum des Pro-Kopf-BIP. Seit der globalen Finanzkrise 2007–2009 ist das BIP pro Kopf in Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko und Tunesien, im Westjordanland und im Gazastreifen jährlich im Schnitt nur um 0,3 Prozent gewachsen. Zum Vergleich: Die europäischen und zentralasiatischen Länder mit mittlerem Einkommen kommen auf durchschnittlich 1,7 Prozent, die dortigen Entwicklungsländer auf 2,4 Prozent. Damit liegt das kumulierte BIP-Wachstum pro Kopf über die 13 Jahre seit der Krise in den Vergleichsländern um 20 Prozentpunkte über dem Durchschnittswert für die MENA-Region. Die Daten sind aus folgenden Gründen jedoch mit Vorbehalt zu betrachten: Erstens verdecken die Durchschnittswerte eine erhebliche Heterogenität zwischen den Ländern. So verzeichnet etwa Ägypten mit 2,1 Prozent ein hohes BIP-Wachstum pro Kopf, und auch Marokko schneidet im Vergleich gut ab. Und zweitens ergibt sich das negative Pro-Kopf-Wachstum in Jordanien und Libanon zumindest teilweise aus dem starken Bevölkerungswachstum durch die vielen Flüchtlinge aus Syrien in den beiden Ländern. In dem Maße, wie die Flüchtlinge von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden, entsprechen die BIP-Daten gegebenenfalls nicht ganz der Lage der einheimischen Bevölkerung.

 

Was den Privatsektor bremst

Geraldine Bruneel

Der Bericht liefert Erklärungen für das relativ langsame Wachstum im Nahen Osten und in Nordafrika. Besonderes Augenmerk liegt auf der stagnierenden Produktivität und dem mangelnden Aufbau von Human- und Realkapital im Privatsektor. Das Geschäftsumfeld in der Region gilt als schwierig. Als Haupthindernisse nannten die befragten Unternehmen:

  • Politische Instabilität
  • Korruption
  • Führungsqualität entspricht nicht der Best Practice in vergleichbaren Ländern
  • Politische Verflechtungen und Informalität untergraben fairen Wettbewerb
  • Unternehmen sind weniger gut in der Lage, Handel, Innovation und Digitalisierung zu nutzen
  • Wenige Firmen investieren in ihre Arbeitskräfte
  • Schwieriger Zugang zu Kapital und geringe Investitionen
  • Hinderliche Marktregulierung

Firmen mit Verbindungen zur Politik ziehen relative Vorteile aus ihrer privilegierten Lage. Dies führt aber indirekt auch dazu, dass Wettbewerber ihren Nachteil mit anderen Mitteln des Zugangs zur Politik auszugleichen suchen. Zudem leiden etablierte Firmen stark unter dem großen informellen Sektor. Die Konkurrenz durch die informelle Wirtschaft dämpft die Wachstumserwartungen und folglich die Aussicht auf Finanzierungsmittel, was sich in weniger Kreditanträgen niederschlägt.

Nachhaltiges Wachstum fördern

Die grüne Wende hat bislang keine Priorität. Alle Länder der Region subventionieren weiter fossile Brennstoffe und daraus erzeugten Strom; deshalb bestehen für Unternehmen kaum Anreize zur Dekarbonisierung. Für börsennotierte Gesellschaften haben ESG-Aspekte (Umwelt, Soziales und Governance) an Bedeutung gewonnen, aber insgesamt ist das ESG-Bewusstsein in der Region weiter gering. Firmen im Nahen Osten und in Nordafrika bemühen sich zu einem geringeren Teil als die Vergleichsgruppe in Europa und Zentralasien, ihren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Allerdings schneiden einige Volkswirtschaften der Region deutlich besser ab als andere. Das zeigt: Es gibt Chancen für Reformen, die das Wachstum stärken und nachhaltiger gestalten.

©S B/Unsplash

Der Bericht empfiehlt, dass die Länder der Region Regulierungshürden für Unternehmen abbauen, den Wettbewerb stärken und Negativanreize eindämmen, die durch politischen Einfluss und informelle Geschäftspraktiken entstehen. Wichtig sind Reformen, die Innovation, die Einführung digitaler Technologien und Investitionen in Humankapital fördern. Außerdem sollten Anreize für Unternehmen geschaffen werden, verstärkt die Vorteile des grenzüberschreitenden Handels und globaler Wertschöpfungsketten zu nutzen. Auch die Nachhaltigkeit, die globale Agenda gegen den Klimawandel und ganz allgemein der Schutz der natürlichen Umwelt sind bei den Reformen zu berücksichtigen. Die Regierungen müssen dafür sorgen, dass dieser Übergang gerecht gelingt – mit Maßnahmen, die Arbeitskräften helfen, eine neue, bessere Arbeit in der grünen Wirtschaft zu finden, und Schutz bei drohender Arbeitslosigkeit bieten.