Was kann der neue Mobilfunkstandard wirklich?
Manuel Tarazona Cano, Senior Engineer für digitale Infrastruktur bei der Europäischen Investitionsbank
Wer die letzten Wochen online war, konnte den Meldungen über Huawei und den 5G-Aufbau kaum entkommen. Dabei fragte sich wohl so mancher zufriedene 4G-Nutzer: Warum sich eigentlich mit der neuen Mobilfunkgeneration befassen? Schließlich funktionieren Instagram, Spotify und Bitcoin-Mining schon jetzt einwandfrei.
Was kann 5G, was 4G nicht kann? Ehrlich gesagt, wissen wir das auch noch nicht so genau. Die künftigen Anwendungen lassen sich derzeit nur ansatzweise erahnen.
Immerhin kennen wir die technischen Möglichkeiten von 5G. Die Internationale Fernmeldeunion hat die Leistungsanforderungen für die Kommunikation der nächsten Generation veröffentlicht: 5G wird 10 bis 100 Mal so schnell sein wie 4G. Bislang konnten pro Quadratkilometer 100 000 Geräte vernetzt werden – das 5G-Netz wird eine Million schaffen, also ein Gerät pro Quadratmeter. Und bei der Datenübertragung sollen bis zu 20 Gigabyte pro Sekunde möglich sein. Außerdem sind die neuen Netze viel energieeffizienter: 5G wird pro übertragener Dateneinheit nur ein Hundertstel der heutigen Energie verbrauchen. Das dürfte die Umweltauswirkungen des zunehmenden mobilen Datenverkehrs deutlich eindämmen.
Das mobile Internet soll mit 5G überdies erheblich schneller werden. Für die meisten 4G-Handy-Nutzer dürfte es allerdings irrelevant sein, ob sie YouTube-Videos künftig noch zügiger auf dem Smartphone streamen können.
Doch die leistungsfähige 5G-Technologie hat noch einen weit wichtigeren Effekt: Sie hebt die physischen Grenzen der heutigen Mobilfunknetze auf und ermöglicht völlig neue Anwendungen. Bleibt die Frage: Welche neuen Dienste wird es künftig geben? Die Telekommunikationsbranche und öffentliche Einrichtungen – vor allem in Europa – setzen derzeit alles in Bewegung, um innovative Dienstleistungen zu fördern. Dazu werden eigens Testnetze errichtet. Eine echte „Killerapplikation“, die Geld in die Kassen spült, ist bislang allerdings noch nicht in Sicht.
Virtual Reality, Augmented Reality, das Internet der Dinge und vernetzte Autos: All dies ist schon mit 4G möglich, der entscheidende Durchbruch dürfte gleichwohl erst mit der leistungsfähigeren 5G-Technologie gelingen.
Ein besonders vielversprechender Anwendungsbereich ist das taktile Internet: Mit kleinsten Körperbewegungen lassen sich physische Objekte aus der Ferne steuern – mit sensorischem Feedback in Echtzeit. Beispiel Telechirurgie: Der Chirurg sitzt an einer Konsole und steuert den OP-Roboter mit einer Art Joystick, Knöpfen und seinen Bewegungen. Das erfordert eine extrem zuverlässige, latenzarme Kommunikation. Nur wenn das Mobilfunksignal nahezu in Echtzeit an das Objekt übertragen wird und ebenso schnell Informationen zurückfließen, können wir Objekte durch eigene Bewegungen aus der Distanz steuern und eine zuverlässige Rückmeldung erhalten. Mit 5G sinkt die im Fachjargon „Latenz“ genannte Reaktionszeit in der drahtlosen Signalübertragung auf eine Millisekunde – das ist ein Zehntel dessen, was wir derzeit kennen.
Ein weiteres wesentliches Merkmal von 5G ist das „Network Slicing“. Mit dieser Technik können Anwendungsfälle, die eine Echtzeitreaktion erfordern, Vorrang erhalten gegenüber normalen Diensten wie etwa YouTube. So lassen sich beispielsweise Telechirurgie-Daten über einen entsprechenden Network Slice quasi auf der Überholspur übertragen. Auf den ersten Blick scheint Network Slicing dem Prinzip zu widersprechen, dass alle Daten bei der Übertragung im Internet gleich behandelt werden müssen. Die EU-Verordnung über den Zugang zum offenen Internet, die diese Netzneutralität regelt, berücksichtigt jedoch auch Spezialdienste mit höheren Übertragungsanforderungen. Diese dürfen den allgemeinen Internetzugang allerdings nicht beeinträchtigen. Man darf gespannt sein, wie es der Branche und den Regulierungsbehörden bei der Einführung von 5G gelingt, neue Anwendungen und die Netzneutralität unter einen Hut zu bringen.
5G-Netze könnten dank hoher Übertragungsgeschwindigkeit und ‑kapazität, geringer Latenzzeit und der Fähigkeit, Milliarden unterschiedliche Geräte gleichzeitig zu verwalten, zum Nervensystem von Wirtschaft und Gesellschaft werden. Dass sie weltweit alle Daten in Echtzeit sammeln können, ist eine große Chance, birgt aber auch ein höheres Missbrauchsrisiko – beispielsweise für personenbezogene Daten. Der 5G-Aufbau geht zwar mit einer höheren Cybersicherheit einher. Über den Trend, dass immer sicherere Systeme gehackt werden können, lässt sich trotzdem nicht hinwegsehen.
Wann wir die disruptiven Anwendungen von 5G nutzen können? Noch nicht sofort. Einige Betreiber haben zwar bereits 5G-Dienste angekündigt, für die Smartphone-Hersteller noch in diesem Jahr 5G-kompatible Mobiltelefone auf den Markt bringen wollen. Diese Neuerungen werden allerdings nur schnellere Mobilfunkverbindungen ermöglichen. Auf die genannten innovativen Anwendungen müssen wir noch mindestens drei bis vier Jahre warten – vorausgesetzt, kreative App-Entwickler können mit neuen, revolutionären Ideen aufwarten.
Aus Sicht der Betreiber dürfte die Einführung von 5G eher evolutionär als revolutionär erfolgen. Sie rüsten zunächst die Software der Anlagen nach, die in den letzten Jahren installiert wurden, um die Kapazität des 4G-Netzes zu verbessern. Einige haben bereits „stille“ 5G-Netze eingerichtet, die sie jederzeit aktivieren können. Anfangs sehen wir Nutzer nur das „5G“-Zeichen auf unserem Smartphone-Display, ansonsten ändert sich nicht viel. Irgendwann stellen die Betreiber dann neue, leistungsfähigere Antennen auf – in vielen Fällen auf denselben Masten, die sie bereits für 4G verwenden. Ab diesem Zeitpunkt wird die höhere Übertragungsgeschwindigkeit deutlicher zu spüren sein. Diese Entwicklung dürfte sich in den nächsten zwei Jahren in Europas Städten abspielen. Später werden die Betreiber auch ihre Kernnetze modernisieren, damit sie für die neuen Dienste gerüstet sind, die es dann vielleicht gibt.
Billig wird die Umstellung auf 5G nicht, aber sie dürfte sich für die Gesellschaft auszahlen. Die EIB hilft führenden Telekommunikationsunternehmen bereits dabei, ihre 5G-Versprechen zu erfüllen. Vergangenes Jahr genehmigte die Bank Darlehen von 500 Millionen Euro an Ericsson und Nokia für die Entwicklung von 5G-Netzwerkprodukten, und in Kürze finanzieren wir den Aufbau erster 5G-Netze.
Der Text gibt allein die Einschätzung des Autors wieder.