Früher war Essen als schmutzige Industriemetropole verrufen. Inzwischen hat sich die Stadt gemausert und wurde nun zur Grünen Hauptstadt Europas 2017 gekürt. Hier erfahren Sie, wie die Ruhrgebietsmetropole diesen ökologischen Wandel geschafft hat.
Die Zeche Zollverein ist Essens imposantestes Industriedenkmal. Nachdem der Industriekomplex 2001 als UNESCO-Welterbe ausgezeichnet wurde, hat er sich zu einem wichtigen kulturellen Zentrum der Region entwickelt. Im Winter entsteht auf dem Gelände der ehemaligen Kokerei eine 150 Meter lange Eislaufbahn.
Noch bis in die 1990er Jahre hinein wurden zwei Drittel der Essener Abwässer in die Emscher geleitet. Schlachthöfe und Stahlkonzerne entsorgten hier ihren Dreck, der Fluss nahm Schwermetalle und Fäkalien auf. Die Emschergenossenschaft – ein Verband aus 19 Kommunen und zahlreichen Unternehmen – wurde 1899 als erster Wasserwirtschaftsverband Deutschlands gegründet. Sie entwarf einen ehrgeizigen Plan, um den Fluss zu renaturieren und an seinen Ufern Erholungsräume und neue Flächen für wirtschaftliches Wachstum entstehen zu lassen. Nachdem die Emscher durch die jahrelange Einleitung von Industrieabfällen quasi zur offenen Kloake geworden war, ist ihre Renaturierung noch immer eine große Herausforderung.
Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft, kann mit seinen zwei Kindern (neun und zehn Jahre alt) nun auf neuen, grünen Spielplätzen am Flussufer spielen. „Der Emscher-Umbau ist das größte europäische Projekt zur Wiederherstellung einer kompletten Flusslandschaft und ein Motor des Strukturwandels“, so Paetzel.
„Wir geben den Menschen ihren Fluss zurück.“
Essen hat sich von seiner Vergangenheit als schmutzigste Stadt im Herzen des Ruhrgebiets befreit und wurde nun von der Europäischen Kommission sogar zur Grünen Hauptstadt Europas 2017 ernannt.
Wie hat die Stadt diese eindrucksvolle Verwandlung geschafft?
Strukturwandel
Mit dem Titel „Grüne Hauptstadt Europas“ wird jedes Jahr eine Stadt ausgezeichnet, die eine Vorreiterrolle für umweltfreundliches städtisches Leben spielt. Ein Expertengremium bewertet die Bewerberstädte anhand von Schlüsselkriterien wie Luftqualität, Nahverkehr, städtische Grünflächen und Klimaschutz.
„Ruß, Dreck, Gestank und qualmende Schlote – das ist es, womit Essen anderswo noch immer in Verbindung gebracht wird“, sagt Matthias Sinn, Leiter des Essener Umweltamts. „Dabei ist Essen schöner und grüner, als man denkt: Die vielen Parks und Wasserflächen sorgen für ein gutes Lebensgefühl.“
Die ehemalige Kohlehochburg hat nun 23 Hektar Grünanlagen und eine hohe Wasserqualität. Außerdem ist der größte Teil der Essener Innenstadt heute Fußgängerzone. „Wir hatten da wahrscheinlich eine schwierigere Aufgabe als andere Städte“, fügt Matthias Sinn hinzu.
„Die größte Herausforderung besteht für uns darin, die Einstellung der Einheimischen und Besucher zu ändern.“
Rekordträchtige Erfolge
Essen konnte die Jury mit einigen beeindruckenden Erfolgen von sich überzeugen:
- 3 100 Hektar Park- und Grünflächen, was etwa 2 200 Fußballfeldern entspricht,
- 13 000 Arbeitsplätze entstanden im innovativen Umweltbereich,
- ein Wasserwirtschaftssystem mit multifunktionalen Grünflächen, die für das Regenwassermanagement, den Hochwasserschutz und die Grundwasseranreicherung genutzt werden.
- 95 Prozent der Einwohner leben höchstens 300 Meter von der nächsten städtischen Grünanlage entfernt,
- 376 Kilometer Radwege durchziehen die Stadt,
- 128 000 Quadratmeter Straße wurden mit lärmoptimiertem Asphalt saniert,
- seit den 1960er Jahren werden keine Haushaltsabfälle mehr deponiert,
Außerdem konnte die Stadt mit ihren ehrgeizigen Zielen punkten:
- Verringerung der CO2-Emissionen um 40 Prozent bis 2020,
- 25 Prozent aller Wege per Rad bis 2035,
- 20 000 Arbeitsplätze im Umweltbereich bis 2025,
- Recycling von 65 Prozent aller Abfälle bis 2020.
Innovative Ideen
Zur Regulierung der Emscher verwendete die Emschergenossenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts große Steinblöcke.
Das Abwassermanagement in Essen gestaltete sich in der Vergangenheit sehr knifflig. Grubenschächte durchzogen den gesamten Untergrund. Eine Kanalisation ließ sich nicht verlegen. Tonrohre wären geborsten, gemauerte Schächte gerissen.
„Ende der 1980er Jahre wurde der Kohlebergbau weiter in den Norden verlagert, damit erledigte sich das Risiko von Bergsenkungen“, erklärt Peter Bernsdorff, Kreditreferent bei der Europäischen Investitionsbank, der in die Finanzierung einiger Umweltprojekte der Stadt Essen involviert war. „Dem Bau unterirdischer Abwasserkanäle stand somit nichts mehr im Weg.“
Beeindruckende Dimensionen
Das Projekt umfasst:
- den Bau neuer, unterirdischer Abwasserkanäle auf mehr als 400 Kilometern,
- die Renaturierung der Flussufer und -landschaften auf 350 Kilometern.
Auch die dafür anfallenden Kosten lassen staunen: Sie belaufen sich auf 5,3 Milliarden Euro, von denen die EIB etwa 30 Prozent finanziert.
„Besonders bemerkenswert an dem Projekt sind seine enorme regionale Größenordnung, die moderne Technik und die Verbesserung der Biodiversität. Über die Größe des Projekts kann man sich zwar in den Projektunterlagen informieren. Aber richtig begreifen kann man sie erst, wenn man unten in einem 40 Meter tiefen Schacht steht und zum Himmel hoch schaut“, bemerkt EIB-Volkswirt Sebastian Hyzyk. „Zusätzliche Rückhaltebecken dienen dem Hochwasserschutz.“
2011 stellte die EIB ein erstes Darlehen über 450 Millionen Euro bereit. Später genehmigte sie weitere 450 Millionen Euro für den Projektzeitraum 2014 bis 2016. Aktuell bereitet die Bank ein drittes Darlehen über 450 Millionen Euro vor. Die Finanzierungen haben jeweils eine Laufzeit von 45 Jahren und sind trotzdem festverzinslich.
High-Tech unter der Erde
Der neue Emscherkanal ist ein hochmodernes, unterirdisches Rohrsystem mit drei Hochleistungspumpwerken, die das Abwasser zum nächsten Rohrabschnitt hochpumpen. Serviceroboter werden die Rohre warten, reinigen und eventuelle Risse orten. Der 51 Kilometer lange Kanal verläuft in einer Tiefe von bis zu 40 Metern und hat einen Durchmesser von knapp drei Metern. Im Abstand von einem Kilometer werden Anlagen zur Sauerstoffanreicherung installiert, damit für eine ausreichende Belüftung im Kanal gesorgt ist. Der Kanal ist das wahrscheinlich modernste Abwassersystem der Welt.
„Diesen Abwasserkanal könnte man mit einem Auto befahren“, sagt Uli Paetzel lächelnd.
Damit das Abwasser im Kanal abfließen kann, braucht er ein Gefälle von 1,5 Promille (1,5 Meter pro Kilometer).
Die nächste Herausforderung wartet an der Stelle, wo die Emscher in den Rhein mündet. Dort fließt sie über ein sechs Meter hohes Stauwehr in den darunterliegenden Rhein. Hier haben Fische oder andere Lebewesen keine Chance, vom Rhein in die Emscher zu gelangen. Deswegen soll die Mündung der Emscher 500 Meter weiter nach Norden auf ein mehr als 20 Hektar großes Feuchtgebiet verlagert werden. Auf diese Weise entsteht ein natürlicher Durchlass zwischen den beiden Flüssen.
Gemeinsame Bahnprojekte
In ihrem Jahr als Grüne Hauptstadt Europas 2017 plant die Stadt Essen mehr als 300 Projekte und Veranstaltungen, die die Lebensqualität in der Stadt noch weiter verbessern werden. Das Thema Nachhaltigkeit hat dabei oberste Priorität. Dazu gehört auch die Förderung des öffentlichen Verkehrs.
Das Rhein-Ruhr-Gebiet ist einer der am dichtesten besiedelten Ballungsräume Europas, und die öffentlichen Verkehrsnetze einschließlich der Bahnstrecken zwischen Köln, Essen und Dortmund sind stark überlastet. Die EIB fördert seit langem einen nachhaltigen und umweltverträglichen Verkehr. Deshalb war es für die Bank naheliegend, auch den Rhein-Ruhr-Express mitzufinanzieren.
Mit einem Darlehen über 340 Millionen Euro, das im April 2016 unterzeichnet wurde, unterstützt die Bank den Kauf von 82 neuen Doppelstock-Elektrotriebzügen, die energieeffizienter sind, mehr Fahrgäste befördern können und mehr Komfort bieten.
„Besonders bezeichnend war dabei, dass die vier benachbarten Verkehrsverbände der Region enger als jemals zuvor zusammengearbeitet haben“, sagt Peter Bernsdorff.
Der Rhein-Ruhr-Express soll rund 31 000 Fahrgäste pro Tag befördern und dürfte viele Autofahrer zum Umstieg auf die Bahn bewegen. In derselben Region kofinanziert die EIB auch die S-Bahn Ruhrgebiet. Die 40 zusätzlichen Elektrozüge werden unter anderem die Stadt Essen anfahren.
Viele städtische Gebiete durchlaufen derzeit einen Strukturwandel. Ihnen könnte Essen mit der Verwandlung von einer Kohle- und Stahlstadt in die grünste Stadt Deutschlands als leuchtendes Beispiel dienen.