Kieldrecht verleiht der Wirtschaft Flanderns neue Impulse
Die gigantischen Schiffe laufen fünf Stunden mit der Flut auf der Schelde ein und warten, bis sie an der Reihe sind. Schließlich fahren sie in die Kallo-Schleuse ein, über die sie zu den Kaianlagen des Waasland-Hafens gelangen. Dort löschen sie ihre Ladung. „Die Schleuse ist wirklich ausgelastet“, sagt Freddy Aerts, der im flämischen Ministerium für Mobilität und Öffentliche Arbeiten die für den Hafenzugang zuständige Abteilung leitet. „Daher kommt es hier zu regelrechten Verkehrsstaus.“
Die Schiffe haben hohe Betriebskosten und müssen deshalb zügig entladen werden. Die neue Schleuse ermöglicht den Frachtschiffen einen schnelleren Umschlag. Am 10. Juni weiht der Hafen von Antwerpen die größte Schleuse der Welt ein. Durch die Kieldrecht-Schleuse wird sich der Schiffsverkehr zum Waasland-Hafen am linken Ufer der Schelde verdreifachen, da sie Schiffen eine zweite Zufahrtsmöglichkeit bietet.
„Jetzt können wir die größten Containerschiffe der Welt aufnehmen“, so Aerts weiter. „Das wird die Wirtschaft richtig ankurbeln.“
Es ist ein bedeutender Monat für Superschleusen, denn die Kieldrecht-Schleuse wird die am rechten Schelde-Ufer Antwerpens gelegene Berendrecht-Schleuse als weltweit größte Schleuse ablösen. Ende Juni wird die dritte Fahrrinne der Mega-Schleusen im Panamakanal für den Schiffsverkehr freigegeben. In all diesen Schleusen steckt europäisches Ingenieur-Know-how. Und an ihrer Finanzierung ist die Europäische Investitionsbank beteiligt, die allein für die neue Schleuse in Antwerpen 160,5 Millionen Euro bereitgestellt hat.
Freie Kapazitäten in den Docks
Der Tidenhub, also der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser, liegt in der Schelde bei bis zu sechs Metern. Dies verlangsamt den Frachtumschlag. Containerschiffe benötigen bei der Einfahrt sehr tiefes Fahrwasser. Antwerpen hat daher – wie andere Tidehäfen auch – Schleusen gebaut, durch die Schiffe in ein Hafenbecken gelangen, in dem der Wasserstand stabil gehalten werden kann. Am rechten Schelde-Ufer verfügt Antwerpen über sechs Schleusen. Hier befindet sich auch die Berendrecht-Schleuse, die 1989 in Betrieb genommen wurde. Dank dieser Infrastruktur ist der Hafen von Antwerpen nun der zweitgrößte Europas – nach Rotterdam.
In den 1970er Jahren beschloss Antwerpen im Flussgebiet in Waasland einen Hafenkomplex zu bauen. Dieses Gebiet wurde früher von der Landwirtschaft und der rückläufigen Textilindustrie genutzt. Bei der Planung der Hafenanlagen wurde darauf geachtet, dass sie in der Lage sein sollten, sogar die heutigen Mega-Frachter mit einem Tiefgang von rund 16 Metern aufzunehmen. Leider hat die mittlerweile 30 Jahre alte Kallo-Schleuse, die bislang einzige Zufahrt zum Waasland-Hafen, schon lange ihre Kapazitätsgrenze erreicht.
Der Waasland-Hafen könnte zwar weitaus mehr Schiffe aufnehmen, doch kann die Kallo-Schleuse aufgrund ihrer Größe täglich nur etwa 24 Hochseeschiffe und einige kleinere Frachter abfertigen. „Die Investitionen in den Waasland-Hafen konnten nicht voll ausgeschöpft werden“, ergänzt der in Waasland geborene Aerts.
Dies bremst Antwerpens Wachstum. Es ist auch ein strategisches Problem für Europa. Das weltweite Frachtaufkommen wird sich voraussichtlich bis 2050 vervierfachen. Die europäischen Häfen müssen mit diesem Zuwachs mithalten.
„Die Kieldrecht-Schleuse setzt bislang ungenutzte Kapazitäten des Hafens frei“, sagt EIB-Ingenieurin Inge Vermeersch, die an dem jüngsten Schleusenprojekt mitarbeitete. „Mit der neuen Schleuse kann Antwerpen seine Position in Europa stärken.“
Antwerpen baut neue Seeschleuse
2010 wurde die Fahrrinne der Schelde verbreitert und tiefer ausgebaggert. Nun konnten mehr und zugleich größere Schiffe von der Nordsee aus flussaufwärts die letzten 80 km bis nach Antwerpen zurücklegen. Die europäischen Häfen wurden von der Wirtschaftskrise stark getroffen. Dennoch unterstützte die EIB dieses große Investitionsvorhaben und unterzeichnete im September 2011 den Darlehensvertrag für die neue Schleuse.
Der Bau der Kieldrecht -Schleuse dauerte mehr als vier Jahre. Ein gigantisches Projekt: Fünf Millionen Kubikmeter Erde mussten ausgehoben und noch einmal so viel abtransportiert werden. 755 000 Kubikmeter Stahlbeton wurden verbaut und es wurde dreimal so viel Stahl wie für den Bau des Pariser Eiffelturms eingesetzt. Arbeiter legten während des Ausbaggerns einen 3,5 Millionen Jahre alten Wal frei. Im April dauerte es ganze sieben Tage, um die Schleuse zu fluten. Am 10. Juni 2016 ist es dann soweit: König Philippe von Belgien wird die Schleuse einweihen, deren Kapazität innerhalb von drei Wochen voll ausgelastet sein wird.
Antwerpens neue Seeschleuse schafft Arbeitsplätze
Sobald sie in Betrieb genommen wird, wird die Wirtschaft Flanderns durch die neue Schleuse einen enormen Aufschwung erfahren. Ökonom Tom Scheltjens, bei der EIB für Schifffahrtsprojekte zuständig, verbrachte einige Jahre in Antwerpen. Er erinnert sich, dass er mit seinen Freunden damals des Öfteren mit den Motorrädern die Waasland-Docks entlang rauschte. Die standen weitgehend leer, weil die Hafenanlagen nicht voll genutzt wurden. Motorradrennen in Waasland gehören nun der Vergangenheit an. Scheltjens geht davon aus, dass der Hafen weiter expandieren wird und sich in unmittelbarer Nähe mehr Unternehmen ansiedeln werden, denn nun können Waren leichter umgeschlagen werden.
„Die Wirtschaft der Region wird hiervon enorm profitieren", so der Ökonom weiter. „Die Region Flandern bleibt aufgrund ihrer logistischen Vorteile für Investoren interessant und dadurch entstehen Arbeitsplätze.“
Im Hafen von Antwerpen arbeiten derzeit 62 500 Menschen, weitere 88 000 sind in Bereichen und Unternehmen beschäftigt, die mit dem Hafenbetrieb verbunden sind. Laut belgischer Nationalbank beschert der Hafen der Wirtschaft des Landes jährlich eine Wertschöpfung von 19 Milliarden Euro. Das sind 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Sogar Unternehmen in anderen Teilen Flanderns werden davon profitieren. Wenn die großen Schiffe künftig die neue Schleuse passieren, steht die kleinere Kallo-Schleuse den Frachtschiffen zur Verfügung, die auf den Binnenwasserstraßen verkehren. Dies bedeutet, dass Güter, die normalerweise zum Weitertransport auf Lkws verladen würden, stattdessen nun auf Flüssen und Kanälen landeinwärts befördert werden. Das verringert die Treibhausgasemissionen.
„Dies wird sich langfristig wirklich positiv auswirken“, unterstreicht Freddy Aerts von der Hafenbehörde. Er räumt jedoch ein, dass die Kieldrecht-Schleuse nicht lange die größte Schleuse der Welt bleiben wird. Letztes Jahr genehmigte die EIB ein Darlehen von 300 Millionen Euro für die Finanzierung der neuen Seeschleuse von Amsterdam. Die soll zwei Meter breiter und 20 Zentimeter tiefer werden als die Kieldrecht-Schleuse. „Derzeit verfügen wir hier über zwei der größten Schleusen der Welt“, lacht er. „Das genießen wir jetzt erst mal.“
Antwerpens neue Seeschleuse - das jüngste der zahlreichen Seeverkehrsprojekte der EIB
Die EIB finanziert wichtige Projekte, die den Seeverkehr im Bereich der transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V) betreffen. Nachfolgend daher ein kleiner Überblick über die jüngsten großen Projekte, die die Bank im Nordwesten Europas fördert:
- Belgien: Bau von zwei Schleusen und Vertiefung des Flussbettes der Maas.
- Frankreich: Ausbau der Häfen von Calais, Cherbourg und Caen.
- Irland: Infrastrukturarbeiten im Hafen von Dublin und Verlegung des Containerterminals des Hafens von Cork.
- Niederlande: Bau der Seeschleuse IJmuiden, der größten Schleuse der Welt, die die derzeitige 1929 erbaute Schleuse ersetzen soll.
- Vereinigtes Königreich: Bau eines Tiefwasser-Containerhafens an der Themse für London und eines Tiefwasser-Containerhafens für Liverpool sowie Modernisierungsmaßnahmen in den Häfen von Hull, Southampton und Dover.