Ein schwedisches Unternehmen rüstet Immunzellen für den Kampf gegen Krebs
Reagan Jarvis studiert seit vielen Jahren die biochemischen Prozesse des Lebens. Als Postdoc forschte der Neuseeländer an T-Zellen, einer bestimmten Art von weißen Blutkörperchen, die Teil unseres Immunsystems sind. Was er damals noch nicht wusste: Diese Arbeit sollte sein Leben verändern.
„Wir wollten ein biologisches System schaffen, das für Krebszellen die genau passenden T-Zellen identifiziert – und dann die körpereigenen T-Zellen so umprogrammiert, dass sie den Krebs angreifen“, erklärt Jarvis. „Normalerweise plant man so etwas über Jahre. Aber für meinen Mitgründer und mich reichte eine Skizze auf einer Serviette. Danach ging es direkt ins Labor und an die Arbeit.“
Zusammen mit dem schwedischen Seriengründer und Investor Mikael Blomkvist gründete Jarvis 2014 die Firma Anocca. In Södertälje, südwestlich von Stockholm, forschen hoch qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt unter modernsten Bedingungen an veränderten T-Zellen. Das Team entwickelt Therapien der nächsten Generation für den heilenden und prophylaktischen Einsatz gegen Krebs, Infektionskrankheiten und Autoimmunerkrankungen.
„Niemand sonst macht das, was wir tun. Oder nicht in diesem Maßstab,“ sagt Jarvis. „Mit unseren molekularen Technologien, genetischen Tools und neuester Software können wir Therapien für mehr Krebsarten und mehr Patienten entwickeln als je zuvor.“
Die Europäische Investitionsbank (EIB) unterstützt Anocca mit einer Venture-Debt-Finanzierung von 25 Millionen Euro, die im Dezember 2022 unterzeichnet wurde. Jetzt kann das Unternehmen mit klinische Studien loslegen und seine Forschung noch schneller vorantreiben.
„Anoccas Technologie könnte den nächsten großen Sprung in der Immuntherapie bringen“, sagt Cristina Niculescu, die als Senior Life Science Specialist im Team der EIB an einer Finanzierung arbeitete. „Sie könnte Therapien der nächsten Generation in der Breite verfügbar machen, für viel mehr Menschen.“
Was sind T-Zellen und wie können sie gegen Krebs helfen?
T-Zellen – oder T-Lymphozyten – spielen eine zentrale Rolle in unserem Immunsystem. Als „Sondereinsatzkräfte“ unseres Körpers helfen sie, neue Bedrohungen zu erkennen und eine passende Immunantwort zu finden. „Im Grunde erschnüffeln T-Zellen Dinge in unserem Körper, die nicht zu uns gehören, und beseitigen sie“, erklärt Jarvis. „Damit schützen sie uns vor Infektionen und töten Krebszellen.“
Jede T-Zelle hat einen spezifischen Rezeptor (in vielfacher Kopie), der einen ganz bestimmten Fremdkörper – ein sogenanntes Antigen – erkennt und das Signal für eine Immunantwort gibt. Unser Körper produziert unzählige T-Zellen – jede mit Tausenden Rezeptoren auf ihrer Oberfläche. So kann er schnell reagieren, wenn ein Eindringling erkannt ist.
Trotzdem gelingt es nicht immer, Krebszellen wirksam auszuschalten. Manchmal haben wir keine T-Zellen mit den passenden Rezeptoren. Oder aber die Zellen sind erschöpft oder reagieren nicht mehr. Dann kann der Tumor wachsen. Die Lösung: Zellen umprogrammieren und reaktivieren, sodass das Immunsystem wieder funktioniert und den Krebs selbst in weit fortgeschrittenem Stadium bekämpfen kann.
Anoccas Technologie ermöglicht dies – durch eine präzise Identifikation der Antigene und der entsprechenden Rezeptoren. Das Unternehmen entnimmt patienteneigene T-Zellen und verändert die Rezeptoren. Anschließend werden die Zellen wieder eingesetzt und sind nun für den Kampf gegen den Krebs gerüstet. „Die veränderten T-Zellen können die Krebszellen erkennen und angreifen“, so Jarvis. „Dieser ausgefeilte Erkennungsprozess ist entscheidend dafür, dass die T-Zellen ihre ureigene Aufgabe erfüllen können, nämlich gezielt Krebszellen zerstören.“
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Maßgeschneiderte Therapie für Krebspatienten
Jeder Mensch verfügt über ein individuelles Repertoire von T-Zell-Rezeptoren. Deshalb ist es schwierig, eine Behandlung zu entwickeln, die bei allen funktioniert.
Anocca will für mehr Tumorarten und einen breiteren Patientenkreis als bisher möglich maßgeschneiderte Therapien anbieten. Für diese personalisierten Immuntherapien identifiziert das Unternehmen die jeweiligen Tumorantigene und die dazu passenden T-Zell-Rezeptoren. „Das Immunsystem jedes Menschen ist einzigartig“, erklärt Jarvis. „Deshalb müssen wir die richtige T-Zelle finden, um die einzelnen Patienten sicher und wirksam zu behandeln.“
Anocca hat eine Bibliothek veränderter T-Zell-Rezeptoren aufgebaut. Mögliche Behandlungsfelder sind:
- Genetische Mutationen, die Krebs verursachen
- Proteine, die in krankhafter Menge produziert werden oder in Tumorzellen andere Expressionsmuster aufweisen als in normalen, gesunden Zellen
- Viren, die Krebs verursachen
„Wir entwickeln nicht nur eine Therapie, sondern bauen auch eine biopharmazeutische Plattform auf, um Präzisionstherapien mit Chancen auf Heilung bereitzustellen“, so Jarvis. „Mit unseren Bibliotheken an T-Zell-Rezeptoren für eine Vielzahl von Krebsantigenen bieten wir einen passenden Werkzeugkasten für die einzelnen Patienten oder Patientengruppen.“
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Fördergelder für Innovation und Biotechnologie in Schweden
Pioniere wie Anocca stärken das europäische Biotech-Ökosystem. Mit einem über 100-köpfigen Team erforscht, entwickelt und produziert die Firma in Schweden neuartige Zelltherapien.
„Wissenschaftlich sind die europäischen Hochschulen und Forschungsinstitute genauso gut oder sogar stärker als der Rest der Welt“, sagt Niculescu von der EIB. „Aber oft fehlt das nötige Start- und Wachstumskapital – das hemmt den Gründergeist.“
Das Venture Loan der EIB für Anocca ist eines der ersten InvestEU-Projekte im schwedischen Life-Science-Sektor. Es trägt auch zu Europas Plan gegen den Krebs bei, mit dem die EU die Vorsorge, Behandlung und Betreuung verbessern will. Das Programm InvestEU soll von 2021 bis 2027 zusätzliche Investitionen von 372 Milliarden Euro in Europa anschieben.
„Venture Debt gibt Biotech-Firmen und ihren Forschungsteams das nötige Kapital und die Zeit, weiter an ihrer Innovation zu arbeiten“, sagt Anna Stodolkiewicz, die als Investment Officer bei der EIB an der Finanzierung mitwirkte.
„Mit diesem Produkt haben wir bislang schon über 100 europäische Unternehmen im Life-Science-Sektor gefördert.“
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Ein wissenschaftlicher Durchbruch in der Immuntherapie
Krebs ist mit weltweit fast zehn Millionen Fällen im Jahr 2020 die zweithäufigste Todesursache. Einer von sechs Menschen stirbt daran, und die Zahlen dürften in den nächsten zehn Jahren weiter steigen.
Anoccas Innovation kann den Kampf gegen Krebs verändern. „Wir rüsten das Immunsystem neu, sodass es Krebszellen präzise angreifen kann“, sagt Jacob Michlewicz, der Finanzchef von Anocca.
Die Technologie eröffnet auch Anwendungsfelder jenseits der Onkologie. Mit nur geringem Aufwand lässt sich die Plattform anpassen, etwa für personalisierte Tumorimpfstoffe, prophylaktische Impfstoffe gegen verschiedenste Erreger und Toleranzbehandlungen bei Autoimmunerkrankungen.