Unser Leben wird gerade digital, und das Coronavirus könnte eine Revolution beschleunigt haben. Jetzt kommt es darauf an, niemanden zurückzulassen.
Wer kann, arbeitet in diesen Tagen im Homeoffice, das Klassenzimmer wurde nach Hause verlegt. Unser Alltag ist durch die Covid-19-Krise digitaler geworden. Aber ändert sich unser Leben gerade für immer? Und was bedeutet das für die Digitalisierung weltweit? In dieser Folge von „Ändert sich jetzt alles?“ erfahren wir, was für digitale Dienstleister nun anders ist und vor welchen Aufgaben die Politik steht.
Wir haben mit Benoît Denis gesprochen – er ist Senior Economist in der Abteilung Digitale Infrastruktur der Europäischen Investitionsbank.
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Verändert das Coronavirus den digitalen Sektor grundlegend?
Die Coronakrise hat für die IKT-Branche gewaltige Folgen, so viel steht fest. Wenn Fabriken schließen und keine Hotelzimmer mehr gebucht werden, ist klar, dass nicht kritische IT-Projekte gestoppt oder zumindest auf Eis gelegt werden. Diese IT-Investitionen haben vorübergehend keine Priorität mehr.
Gleichzeitig zeigt sich, wie wichtig digitale Infrastruktur und digitale Lösungen sind, damit der Alltag trotz Corona weiter funktionieren kann. Die Menschen arbeiten von zu Hause – auch dieses Interview entstand dort. Wer Technologien und Equipment für den digitalen Arbeitsplatz verkauft, kann sich seit dem Ausbruch der Pandemie vor Anfragen kaum retten. Dabei geht es nicht nur um Laptops und Softwarelizenzen, sondern auch um Infrastruktur, etwa den Zugang zu virtuellen privaten Netzwerken und Sicherheitslösungen.
Alle cloudbasierten Kollaborationstools erleben ebenfalls gerade einen exponentiellen Nachfrageanstieg. Vor allem Unternehmen mit vielen Nutzern brauchen schnell Lösungen.
Wie bewältigen Unternehmen diese Situation? Brauchen sie neue Server für mehr Cloudkapazitäten?
Kaum ein Unternehmen war darauf eingerichtet, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichzeitig von zu Hause aus arbeiten. Normalerweise sind die Systeme auf einen Telearbeitsanteil von 20–30 Prozent ausgelegt. Deshalb müssen Unternehmen und öffentliche Stellen ihre Bandbreite erhöhen. Wo bislang nur Desktopcomputer vorhanden sind, brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter plötzlich Laptops. Natürlich mit allen Softwarelizenzen – auch für Sicherheitslösungen. Hinzu kommt das virtuelle private Netzwerk – unser Server-Zugang, der ebenfalls ausgebaut werden muss. All das sind Sofortmaßnahmen, die hohe Investitionen bedeuten.
Die Investitionen der Unternehmen werden die aktuelle Pandemie überdauern. Glauben Sie, dass sie in der Post-Corona-Zeit weiter genutzt werden?
Die Welt wird mit Sicherheit eine andere sein – auch im digitalen Sektor. Uns ist nun klar geworden, dass die Resilienz im Pandemiefall stark von der digitalen Infrastruktur und digitalen Dienstleistungen anhängt. Dasselbe gilt aber auch bei einem Konjunktureinbruch oder einem Cyberangriff. Deshalb dürften Unternehmen und Behörden auf eine bessere Ausrüstung achten – für das Jetzt und für die Zukunft.
Vieles, was sich aktuell bewährt, werden wir beibehalten. Nehmen wir den Umzug ins Homeoffice: Wenngleich die Vorteile der Telearbeit für das Klima nicht mehr zu leugnen sind, standen etliche Unternehmen dem Experiment bis vor Kurzem noch skeptisch gegenüber. Richtig ausgestattet beweisen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade, dass sich durchaus von überall aus effizient arbeiten lässt.
Auch dass der Arztbesuch per Computer finanzielle, wirtschaftliche und soziale Vorteile hat, ist schon lange bekannt. Aber Videosprechstunden wurden in vielen Ländern nicht erstattet. Mit dem Covid-19-Ausbruch lagen die Vorteile plötzlich auf der Hand, und die Erstattung ist in vielen Ländern kein Problem mehr. Ich bin zuversichtlich, dass das auch nach Corona so bleibt. Unsere Einstellung zur IT verändert sich gerade grundlegend. Weil wir erleben, dass uns dieses Werkzeug widerstandsfähig macht.
Auch Menschen, die bislang lieber auf Bewährtes setzten, sind jetzt gezwungen, im Alltag neue Wege auszuprobieren. Glauben Sie, dass die Kunden und Nutzer die eine oder andere digitale Lösungen schätzen und positive Erfahrungen mitnehmen?
Nun, wir arbeiten im Moment unter stark erschwerten Bedingungen: Die Kinder sind zu Hause, das Einkaufen gestaltet sich kompliziert, und unsere sozialen Kontakte sind extrem eingeschränkt. Sozusagen das Worst-Case-Szenario. Gleichzeitig beweisen wir, dass der Alltag weiter funktionieren kann – mithilfe der Digitalisierung.
Sicherlich bürgern sich neue Gewohnheiten ein: Wer Telefon- oder Videokonferenzen bislang erfolgreich vermied, wird sie vielleicht auch nach Corona öfter nutzen. Denn die Menschen sehen jetzt die Vorteile. Deshalb ist die Krise ein großer Schritt hin zu einer digitaleren Wirtschaft.
Wie kann sich die IKT-Branche an die neue Realität anpassen? Dienstleister wie Netflix müssen ihre Streamingqualität drosseln – die Infrastruktur hat also offensichtlich Schwachstellen. 5G soll für schnellere Verbindungen sorgen. Wo lässt sich noch ansetzen?
Die IKT-Branche passt sich neuen Gegebenheiten in der Regel sehr schnell an. Denn abgesehen von der Infrastruktur, bei der die Anforderungen sowieso exponentiell steigen, hat die Branche kaum materielles Anlagevermögen. Sie haben Netflix genannt, das durch die Drosselung der Streamingqualität die Netze entlastet hat. Solche Anpassungen wird es weiter geben, aber sie bleiben überschaubar.
Die IKT hilft vor allem anderen Sektoren, sich an die neue Situation anzupassen. Damit sie widerstandsfähig werden und unvorhergesehene Risiken verkraften können.
Die Infrastruktur ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. Durch die Pandemie hat sich der Scheinwerfer auf die digitale Kluft gerichtet. Das Internet ist überall auf der Welt ein wichtiges Kommunikationsmittel für Menschen und Gemeinschaften, die von der Pandemie betroffen sind. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass viele keinen Internetzugang haben. Etwa 3,6 Milliarden Menschen leben offline. Selbst in Europa ist nur rund die Hälfte der ländlichen Haushalte ans schnelle Internet angeschlossen. Die Krise führt uns vor Augen, wie wichtig digitale Infrastruktur ist und welche Konsequenzen die digitale Kluft haben kann.
Wer keinen stabilen Internetzugang hat, kann weder die Arbeitsblätter des Lehrers abrufen noch von zu Hause aus arbeiten. Andere können keine Videosprechstunden bei Ärzten wahrnehmen. Ein Angebot, das in den letzten Wochen massiv genutzt wird – aus gutem Grund: Viele Leute vermeiden das Wartezimmer, um sich nicht anzustecken, und die Ärzte müssen verhindern, dass ihre Praxen überlastet werden. Eine wichtige ärztliche Behandlung darf aber nicht am fehlenden Breitbandanschluss scheitern. Deshalb brauchen wir dringend Investitionen, um die digitale Kluft zu schließen.
Es geht aber nicht allein um die Telekominfrastruktur. Wir erleben gerade, wie ein digitales Gesundheitswesen die Bekämpfung einer Pandemie erleichtert – durch Überwachung, die Ermittlung von Kontaktpersonen und einen unkomplizierten Informationsaustausch. Deswegen sind auch hier hohe Investitionen notwendig.
Die Europäische Investitionsbank ist sicher ein guter Partner für diese Investitionen. Sind Sie gewappnet?
Die EIB ist stärker als alle anderen internationalen Finanzierungsinstitution im digitalen Sektor engagiert. Wir werden also eine wichtige Rolle spielen. Mit der Finanzierung digitaler Infrastruktur haben wir bereits viel Erfahrung. Außerdem können wir in diesem Markt innovative Finanzierungsinstrumente anbieten, sei es in Europa oder in anderen Regionen. Darauf werden wir aufbauen.
Bei den digitalen Lösungen sieht es ähnlich aus. Auch da waren wir in den vergangenen Jahren sehr aktiv, und unsere Leistungen dürften in Zukunft noch stärker gefragt sein. Vor allem von Bankkunden wissen wir, dass es ihnen an Ausrüstung fehlt, um auf Telearbeit umzustellen. Sie haben also ganz klar Investitionsbedarf.
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