Wie schaffen wir eine industrielle Revolution im digitalen Zeitalter?
Harald Gruber, Leiter Digitale Infrastruktur bei der EIB
Wenn Wirtschaftsfachleute Lösungen für das schleppende Wachstum in Europa suchen, blicken sie oft auf die industrielle Revolution und fragen: Lässt sich ein solcher Produktivitätsschub wiederholen? Die Europäische Kommission strebt eine „industrielle Wiederbelebung“ an, und das Weltwirtschaftsforum spricht von der vierten industriellen Revolution. Ist es möglich, die Wirtschaft zu „re-industrialisieren“?
Letztes Jahr habe ich in meinem Artikel Proposals for a digital industrial policy for Europe mögliche Wege aufgezeigt, wie dies gelingen kann. Aber dafür muss klar sein, dass sich die Industrie verändert hat. Und dass sich die industriellen Produkte in modernen Volkswirtschaften verändert haben – sie kommen jetzt meist digital daher. Ebenso haben sich die Produktionsfaktoren verändert. Der wichtigste Inputfaktor sind heute Daten.
Die europäische Industrie hinkt bei der Digitalisierung hinterher, das ist vielfach belegt. Gleichzeitig wissen wir, dass sie ein massives Produktionswachstum schaffen kann. Deshalb brauchen wir unbedingt Konzepte zur Revitalisierung der Industrie. Aber wo anfangen?
Ich sehe sechs Bereiche, in denen der Markt potenziell versagt und wir durch öffentliche Maßnahmen die Digitalisierung der Industrie in Europa vorantreiben sollten.
1. Mangelnde digitale Infrastruktur
Europa hinkt beim Breitbandausbau für das ultraschnelle Internet weit hinterher. Laut OECD-Daten hatten Ende 2016 bereits 30 Prozent der Menschen in Südkorea und 23 Prozent in Japan einen Glasfaseranschluss. In den meisten EU-Ländern, vor allem den größeren, liegt die Quote unter dem OECD-Durchschnitt von 6,4 Prozent. Für Telekomanbieter ist es nicht attraktiv, in dünn besiedelten Gebieten zu investieren, was Subventionen oder andere staatliche Eingriffe rechtfertigen würde.
2. Fehlende digitale Kompetenz
Volle 25 Prozent der Arbeitskräfte in Europa verfügen über eine geringe oder gar keine digitale Kompetenz (Berger und Frey, 2016). Noch gravierender ist das Problem in den höheren Altersgruppen und in wirtschaftsschwächeren Regionen. Deshalb muss Europa mehr Ressourcen aufwenden, um den digitalen Analphabetismus zu bekämpfen. 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gab die Europäische Union 2013 für Bildung aus und damit weniger als die USA mit 6,2 Prozent, Südkorea mit 5,9 Prozent und selbst der OECD-Durchschnitt von 5,2 Prozent (OECD, 2015). Neben mehr Geld für die Aus- und Fortbildung braucht es in Europa auch flexiblere Möglichkeiten für Arbeitskräfte, ihre Kompetenz zu verbessern.
3. Mangel an privaten Investitionen in die Digitalisierung
In digitale Produkte zu investieren, ist schwierig. Weil sie oft noch nicht erprobt sind und der Markt neu ist. Deshalb weiß niemand wirklich, wie wertvoll sie sind. Nach der Hackordnung der Finanzierung (Myers und Majluf, 1984) wäre Eigenkapital das Mittel der Wahl, um mit solcher Unsicherheit behaftete Investitionen zu finanzieren. Auch die oftmals lange Zeit, bis sich digitale Investitionen auszahlen, passt besser zu Eigenkapital als zu Fremdkapital. Aber europäische Firmen finanzieren sich im Gegensatz zu US-Firmen hauptsächlich über Bankkredite, wie EIB-Umfragen und andere Analysen zeigen. Um das zu ändern, brauchen wir einen Kulturwandel – eine andere Einstellung zum Risiko, bei Unternehmen und bei Investoren in Europa. Außerdem sollten wir öffentliche Finanzinstrumente in Betracht ziehen, die Eigenkapitalinvestitionen fördern.
4. Fehlende kritische Marktgröße
Bei Investitionen in immaterielle, digitale Werte gilt oft: Der Gewinner bekommt alles (Shapiro und Varian, 1999). Wie viel ist alles? Nun, das hängt von der Marktgröße ab. In den USA ist der Markt relativ homogen, verglichen mit den (sprachlich, aber vielfach auch regulatorisch etc.) fragmentierten nationalen Märkten in Europa. Sind in den USA neue Konzepte erprobt und erfolgreich, können sie schnell einen großen Markt erobern und über einen ausreichenden Cashflow die Anfangsinvestitionen wieder reinholen. Digitale Technologiefirmen, deren Heimatmarkt kleiner ist, sind demgegenüber von vornherein im Nachteil. Aber mit einer entschlossenen Ausweitung des europäischen Binnenmarkts auf die Dienstleistungswirtschaft (Stichwort: digitaler Binnenmarkt) ließe sich die Lage verbessern.
5. Zu wenig Innovation bei KMU
Icks, Schröder, Brink, Dienes und Schneck (2017) und andere Studien zeigen, dass kleine und mittelgroße Unternehmen – das Rückgrat der europäischen Wirtschaft – bei der Digitalisierung nicht ganz vorne mitspielen. Manche spüren vielleicht keinen Druck, anderen fehlen die nötigen finanziellen oder personellen Ressourcen. Hürden wie diese führen dazu, dass Unternehmen neue Technologien nur stückweise einführen und die transformative Kraft der Digitalisierung nicht nutzen.
6. Mangelnder Schutz im Cyberspace
Daten sind von beträchtlichem ökonomischem Wert, aber auch sehr sensibel. Vor allem personenbezogene, aber auch andere Daten sind in Europa generell streng geschützt. Das kommt allen zugute, wenn es verhindert, dass unrechtmäßig Informationen gesammelt und genutzt werden (etwa um Rechte des geistigen Eigentums zu umgehen oder Personen zu diskriminieren). Allerdings kann der Datenschutz Europa auch schaden, wenn unsere Vorschriften übermäßig streng sind und verhindern, dass wir verfügbare Daten für fortschrittlichere Dienstleistungen nutzen. Gleichzeitig gilt: Wenn wir zu wenig in Cybersicherheit investieren, riskieren wir den Zusammenbruch von Märkten oder hindern Unternehmen vielleicht daran, an Märkten teilzunehmen.
Die Förderung digitaler Technologien sollte in Europa ein industriepolitisches Ziel sein. Andernfalls drohen weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen und das Ende des europäischen Modells von wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand. Deshalb sollten jetzt rasch geeignete öffentliche Maßnahmen diskutiert und in die Wege geleitet werden, die dem sechsfachen Marktversagen gegensteuern.