Drei EIB-Fachleute sprechen über die Bildungskrise und über Hilfen, wie Kinder Lernverluste nach der Pandemie wettmachen können
Die Bildung steht von allen Seiten unter Druck. In der Coronapandemie schlossen viele Schulen ihre Tore. 1,6 Milliarden Kinder wurden entweder online oder gar nicht unterrichtet. Langsam kehren die Schulen zur Normalität zurück, doch die Spätfolgen sind nicht zu übersehen. Die Lernlücken wirken sich auf den Bildungserfolg der Kinder aus und vertiefen die Kluft zwischen begünstigten und benachteiligten Schülern. Langfristig könnte das künftigen Wohlstand schmälern.
Lernunterbrechungen haben auch weitreichende wirtschaftliche Folgen: Einer Studie zufolge könnte die von der Pandemie betroffene Generation von Schülerinnen und Schülern bis zu 17 Billionen US-Dollar an Lebenseinkommen einbüßen – wenn sie deswegen die Schule vorzeitig abbrechen oder auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen haben. Die Krise im Bildungswesen ist allerdings viel älter als die Pandemie. In einigen Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen erwerben Kinder nicht die benötigten Qualifikationen, obwohl sie jahrelang die Schulbank drücken.
Der UN-Bildungsgipfel „Transforming Education“ vom 16. bis 19. September will Probleme im Bildungssystem wie Qualität, Inklusion und Gerechtigkeit erörtern und sie auf die globale politische Agenda bringen. Silvia Guallar Artal, Martin Humburg und Nihan Koseleci Blanchy sind Wirtschaftsfachleute in der Abteilung Bildung und öffentliche Forschung der Europäischen Investitionsbank (EIB). Wir sprechen mit ihnen darüber, dass Kindern geholfen werden muss, Lernrückstände aufzuholen, und wie Geldgeber und Entwicklungsbanken Länder beim Wiederaufbau des Bildungswesens unterstützen können.
Das neue Schuljahr hat gerade erst begonnen. Vor welchen Herausforderungen steht das Bildungswesen in Europa und in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen?
Silvia Guallar Artal: Glücklicherweise sinkt die Zahl der neuen Corona- und vor allem der Todesfälle. Dieser Trend hält hoffentlich an. Es scheint wieder vollen Präsenzunterricht zu geben, mit nur wenig Unterbrechungen, was sehr positiv ist, vor allem für besonders gefährdete und kleinere Kinder. Wir sind jetzt in einer Übergangsphase. Wir wissen, dass die Pandemie zu erheblichen Lerneinbußen und Lernungleichheiten geführt hat. Deshalb müssen wir noch mehr tun, um gegenzusteuern und es besser zu machen. Der Schlüssel zur Bildungswende liegt in innovativen Lerntechnologien, digitalen Kompetenzen und innovativer Pädagogik. Aber dafür brauchen wir sehr viel Geld.
Nihan Koseleci Blanchy: Die UNESCO schätzt in einer aktuellen Studie, dass weltweit 244 Millionen Kinder und Jugendliche nicht die Schule besuchen. Das ist eine riesige Zahl. Und es werden immer mehr, vor allem in Afrika südlich der Sahara und im Bereich der Sekundarschulbildung. Die Länder müssen also nicht nur den Kindern in den Schulen helfen, Rückstände aufzuholen, sondern auch diejenigen zurückholen, die die Schule abgebrochen haben.
Martin Humburg: Zwei der größten Herausforderungen im Bildungswesen sind sicher Qualität und gleichberechtigter Zugang. Wir müssen dafür sorgen, dass Schülerinnen und Schüler Lernverluste wettmachen und die Schule nicht abbrechen. Die dafür nötigen Investitionen müssen steigen, und das sehr schnell. Geldgeber und Entwicklungsbanken wie die Europäische Investitionsbank spielen hier eine entscheidende Rolle, weil sie den Finanzierungsbedarf der Länder überbrücken können.
Wie hoch ist der Nachholbedarf der Kinder, und was können wir aus der Pandemie lernen?
Guallar Artal: Die Weltbank hat 35 seriöse Studien untersucht, die die pandemiebedingten Lerneinbußen von Schülern in 20 Ländern quantifizieren. Das Ergebnis: Der durchschnittliche Lernverlust liegt geschätzt bei ungefähr einem halben Schuljahr. Das ist sehr viel.
Koseleci Blanchy: Die Coronapandemie hat der Bildung weltweit großen Schaden zugefügt. Aber es gibt auch gute Nachrichten. Sie hat Innovation im Bildungssektor angestoßen und international den Erfahrungs- und Good-Practice-Austausch vorangetrieben. Bei unserer Arbeit vor Ort stellen wir fest, dass sich etwa Projektträger für Innovation in der Schulplanung stark machen, vorhandene Räume neu umfunktionieren und Schulinfrastruktur flexibler nutzen. Und sie erproben innovative Lehrmethoden. Die Pandemie hat einen weiteren Bereich in den Fokus gerückt: den Einsatz digitaler Lehr- und Lernwerkzeuge. Wir können noch nicht sagen, was wirklich funktioniert, viele Initiativen bereichern aber den Wissensstand und führen zu einem Austausch guter Praxis. Ein Beispiel dafür ist die Europäische Plattform für digitale Bildung. Die Chancen auszuschöpfen, die Digitalisierung für die Bildung bietet, ist auf jeden Fall ein vorrangiges Ziel der EIB.
Um Bildungsrückstände aufzuholen, muss also massiv investiert werden. In vielen Ländern stehen die Bildungsetats jedoch unter Druck. Wie wichtig ist es, dass die Länder nicht wieder die Bildungsetats zusammenstreichen?
Koseleci Blanchy: Laut dem Education Finance Watch 2022, der von Weltbank und UNESCO im April veröffentlicht wurde, kehrte die Pandemie in Ländern mit mittlerem Einkommen einen Aufwärtstrend bei den Ausgaben für öffentliche Bildung um. Auch die ausländische Bildungshilfe ist rückläufig. Das ist umso besorgniserregender, als die Folgen der Pandemie dringend bekämpft werden müssen. Ohne Geld wird das nicht gehen.
Wir können dem entgegenwirken, wenn etwa Geber und Länder in der Bildungsfinanzierung besser zusammenarbeiten. Bislang stellen zwar viele Geber Geld zur Verfügung, stimmen sich dabei aber nicht ab. Das ist einer der Gründe, warum die EIB mit der Europäischen Kommission in der Initiative Team Europa kooperiert. Damit werden Partnerschaften gestärkt und Finanzierungen besser koordiniert.
Wie können die EIB, die EU und die Mitgliedsländer das Bildungswesen entlasten?
Humburg: Wir stellen zinsgünstige und attraktive Finanzierungen für Projekte innerhalb und außerhalb der EU bereit.
In Europa arbeiten wir zum Beispiel an einem Projekt in Finnland, bei dem Kommunen Strukturen für Bauberufsschulen aufbauen. Die bisherigen Berufsschuleinrichtungen sind über die ganze Stadt verteilt und entsprechen nicht mehr heutigem Standard. Die neue Schule vereint alle Bauberufsausbildungen unter einem Dach. Gleichzeitig dient die neue Infrastruktur als Lernerfahrung, weil die Jugendlichen dort den Bau eines vierstöckigen Gebäudes üben können. Das eröffnet ganz neue pädagogische Möglichkeiten und ein praxisnahes Bildungsumfeld.
Koseleci Blanchy: Außerhalb Europas decken wir den Investitionsbedarf der Partnerländer anhand eines koordinierten und kohärenten Konzepts. So fördern wir in Montenegro ein Projekt für den Bau von Primar- und Sekundarschulen. Dass Bildung die akademischen und wirtschaftlichen Chancen im Leben eines Menschen verbessert, ist kein Geheimnis. Wir hoffen auch, damit den Frauenanteil der Erwerbsbevölkerung zu steigern. Denn wenn Mütter wissen, dass ihre Kinder sicher untergebracht sind, können sie beruhigt einer Arbeit nachgehen.
Dazu kommt, dass in Europa der Krieg in der Ukraine wütet. 5,6 Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen – rund 90 Prozent sind Frauen und Kinder. Die ukrainischen Kinder haben bereits die Pandemie erlebt. Jetzt sind viele von ihnen Flüchtlinge in einem fremden Land. Wie sehr schadet der Krieg jüngeren Menschen, und welche Folgen könnte er für die ukrainische Gesellschaft als Ganzes haben?
Humburg: Die russische Invasion hat massive Auswirkungen auf die Schulausbildung ukrainischer Kinder. Schätzungen zufolge sind 50 Prozent der Geflüchteten Kinder, 40 Prozent von ihnen im schulpflichtigen Alter. In Polen dürfte zum Beispiel eine halbe Million ukrainischer Kinder in diesem Herbst in die Schule kommen. In Deutschland sind 170 000 Kinder aus der Ukraine für den Schulbesuch angemeldet. Und hier in Luxemburg haben 1 700 ukrainische Kinder vor Kurzem mit der Schule begonnen, was bei der Größe des Landes eine enorme Zahl ist.
Auch wenn die Gastländer keine Mühen scheuen: Flüchtling zu sein, ist eine unglaubliche Belastung. Millionen von Kindern werden diese Erfahrung gemacht haben, und das wird sich unweigerlich auf die ukrainische Gesellschaft als Ganzes auswirken. Gleichaltrige Kinder sammeln jetzt je nachdem, wohin sie geflohen sind, völlig verschiedene Schulerfahrungen, mit einer anderen Sprache, einem anderen Lehrplan, einem anderen Umfeld und anderen Bedingungen. Wenn sie wieder zurück in der Ukraine sind, sitzen dann Kinder ohne gemeinsame Lernvergangenheit im Klassenzimmer. Für die Lehrkräfte ist so was immer eine knifflige Aufgabe. Und wir dürfen nicht vergessen, dass auch in der Ukraine selbst Millionen von Kindern geflohen sind, die eine angemessene Bildungsinfrastruktur brauchen. Ich habe die Zahl von sechs Millionen im Land Geflohenen gelesen. Wenn man von 40 Prozent im Schulalter ausgeht, ist das eine Menge.
Die EIB wird der Ukraine beim Wiederaufbau ihrer Bildungsinfrastruktur unter die Arme greifen. Wir halfen der Ukraine bereits beim Wiederaufbau von Bildungsinfrastruktur nach Russlands Annexion der Krim und von Teilen der Ostukraine 2014. Leider wurde diese Infrastruktur zum Teil erneut zerstört oder liegt in Gebieten, die nicht mehr von ukrainischen Behörden kontrolliert werden. Die EIB weiß jedoch sehr gut, wie man wieder aufbaut, und wir werden der Ukraine auch dieses Mal helfen.