Die EU braucht einen Technologiewandel, um die Wirtschaft anzukurbeln: durch innovative Finanzierungen, eine bessere Regulierung und einen stärkeren Binnenmarkt
Im letzten Jahr gaben die langfristigen wirtschaftlichen Aussichten in Europa neuerlich Anlass zur Sorge. Zwar wird in Europa eindeutig wieder mehr investiert, da Kredite leichter erhältlich sind und die Zinsen durch die Geldpolitik niedrig bleiben. Unsere letzte Umfrage zur Investitionstätigkeit zeigt jedoch, dass zahlreiche Unternehmen skeptisch in die Zukunft blicken. Der Grund dafür sind regulatorische Fragen, das politische Klima und zu wenig Fachkräfte für den digitalen Wandel.
Die letzte Umfrage der EIB zur Investitionstätigkeit trägt den Titel „Neues Rüstzeug für Europas Wirtschaft“ und liefert eine umfassende Analyse der Investitionstrends in Europa. Mehrere Gründe gibt es, warum die Unternehmen mit Sorge an die Zukunft denken. Der Bericht spricht einige Schwächen der europäischen Wirtschaft an, veranschaulicht die „Kosten des Untätigseins“ und zeigt, welches neue Rüstzeug wir brauchen.
Strukturelle Fragen
Im VoxEU-Blog habe ich bereits gesagt, dass für die Wirtschaft etliches gut läuft. Das Investitionsniveau in der EU – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – hat fast wieder seinen langjährigen Durchschnitt erreicht. Dabei sind vor allem Investitionen in Maschinen und Ausrüstung, aber auch Investitionen in Wohnungen und andere Gebäude zu nennen. Die Geldpolitik und die herrschenden Finanzierungskonditionen haben zu dieser Erholung beigetragen. Die Unternehmen müssen für ihre Kredite nach wie vor wenig zahlen, und der Prozentsatz der Firmen, die in der EIB-Umfrage zur Investitionstätigkeit (EIBIS) den Zugang zu Finanzierungsmitteln als Hauptbremse für ihre Investitionen nennen, ist mit 17 Prozent gering und weiter rückläufig.
Dennoch nimmt der Gegenwind zu, was manche ein schwächeres Wirtschaftswachstum befürchten lässt. Für die Umfrage wurden 12 500 Unternehmen in ganz Europa zu den Faktoren befragt, die sich auf die Investitionstätigkeit auswirken könnten. Die Anzahl der Unternehmen, die meinen, das allgemeine Wirtschaftsklima fördere die Investitionstätigkeit, ist seit 2017 zurückgegangen. Dagegen ist die Zahl der Firmen, die das politische und regulatorische Umfeld als investitionshemmend einstufen, deutlich gestiegen. Das ist ein Warnsignal. In Verbindung mit dem Brexit, zunehmenden sozialen Spannungen, politischer Polarisierung und größeren wirtschaftlichen Risiken steigt die Unsicherheit.
Unsere Umfrage zeigt, dass es verschiedene Wege gibt, um der europäischen Wirtschaft zu helfen. Wir brauchen:
• ein dynamisches und innovatives Geschäftsumfeld durch bessere Regulierung
• einen stärkeren Binnenmarkt, speziell für Dienstleistungen, und die Voraussetzungen für einen wirklich europäischen Digitalmarkt
• mehr Investitionen in Infrastruktur und Innovation, aber auch neue Technologien
• eine länderübergreifende Zusammenarbeit, um das Qualifikationsniveau, die Wettbewerbsfähigkeit und die soziale Teilhabe zu fördern, und mehr Koordination auf EU-Ebene
Ist die EU beim Technologiewandel genauso schnell wie der Rest der Welt?
In einer Zeit der technologischen Disruption war die Konjunkturerholung in Europa relativ schwach – zumindest im Vergleich zu den USA. Seit Ausbruch der Wirtschaftskrise um das Jahr 2008 ist die Kluft bei den Investitionen in Maschinen und Ausrüstung in der EU und in den USA immer größer geworden. Zum Teil liegt das an dem Schiefergasboom in den USA, aber es stellt sich auch die Frage, ob die EU beim Technologiewandel überhaupt mithalten und genügend neue Technologien übernehmen kann.
Die mangelnden Investitionen in Sachgüter sind besorgniserregend genug. Aber hinzu kommt der schon bekannte Rückstand bei den immateriellen Vermögenswerten. Europäische Unternehmen investieren nach wie vor nicht in immaterielle Güter, etwa in Forschung und Entwicklung. Neben FuE werden Investitionen in Software, Qualifikationen und den organisatorischen Wandel in der neuen digitalen Welt lebenswichtig. Das müssen sich das verarbeitende Gewerbe ebenso wie der Dienstleistungssektor klarmachen.
Bei Innovationen ist die EU einfach zu wenig dynamisch. Die Umfrage zur Investitionstätigkeit zeigt, dass es in der EU – verglichen mit den USA – mehr Unternehmen gibt, die nicht innovativ tätig sind oder die nur die Innovationen anderer Unternehmen übernehmen. Vor allem bei führenden Innovatoren, speziell bei Jungunternehmen, liegt Europa deutlich zurück. Der Grund dafür ist unser statisches System, wo es Jungunternehmer schwerer haben, alteingesessene Rivalen zu verdrängen.
Wenn wir uns ansehen, welche Unternehmen bei den FuE-Ausgaben weltweit an der Spitze liegen, stellen wir eine massive Zunahme in China und eine fehlende Dynamik in Europa fest. Seit 2011 sind weniger europäische Firmen neu in die Topliga gekommen. Auch in High-Tech-Sektoren sind Unternehmen aus der EU weitaus weniger vertreten.
Fehlende Finanzierungen gehören zu den Haupthindernissen für Innovation und Technologiewandel in Europa. Der europäische Finanzsektor wird weitgehend von Banken dominiert, aber Banken sind nicht die besten Finanzierungspartner für Innovationen und Investitionen in immaterielle Vermögenswerte. Die Fremdfinanzierungskosten liegen derzeit rund 400 Basispunkte unter ihrem Vorkrisenniveau, die Eigenkapitalkosten sind allerdings nicht im gleichen Maße gesunken. Für Eigenkapital fällt weiterhin eine hohe Risikoprämie an, sodass die Zinsspanne zwischen Eigen- und Fremdkapital immer noch größer ist als vor der Krise. Private Equity, Risikokapital und börsennotierte Beteiligungen – bei allen diesen Finanzierungsformen hinkt Europa in mehrerlei Hinsicht hinter den USA und führenden asiatischen Ländern her. Deshalb sind europäische Unternehmen stärker von Bankkrediten abhängig und schlechter vor Finanzschocks geschützt.
Innovationsunternehmen haben zu wenig Geld
Wir haben die Daten der Umfrage herangezogen, um innovative Unternehmen mit nicht innovativen Unternehmen zu vergleichen. Dabei hat sich ergeben, dass Innovationsunternehmen ertragsstärker und finanziell gesünder sind, aber wesentlich öfter finanzielle Engpässe haben. Besonders unzufrieden sind sie mit den Besicherungsanforderungen für Bankdarlehen – was bei Firmen zu erwarten ist, die in immaterielle Vermögenswerte wie etwa geistiges Eigentum investieren.
Ein weiteres Hindernis sind die Qualifikationen: 77 Prozent der europäischen Unternehmen beklagen, dass es zu wenig Fachkräfte gibt und die Investitionstätigkeit darunter leidet. Der Fachkräftemangel hat strukturelle Ursachen: Die Wirtschaft muss sich an neue Technologien und Kompetenzen anpassen; verschärfend kommen die angespannte Lage auf den Arbeitsmärkten vieler EU-Länder und die Migration in Mittel- und Osteuropa hinzu. Die innovativsten Unternehmen haben die größten Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. 71 Prozent der Unternehmen in der EU investieren in Schulungen, aber nur 21 Prozent geben an, dass die dafür aufgewendeten Beträge ausreichend waren. Zum Teil mag das daran liegen, dass Firmen die Vorteile von Schulungsmaßnahmen nur schwer erkennen. Möglicherweise müsste also die öffentliche Hand hier die Initiative ergreifen.
Hochwertige Infrastruktur ist ebenfalls wichtig für das Wirtschaftswachstum. Aber auch bei den Infrastrukturinvestitionen hinkt die EU hinterher. Mit 1,7 Prozent des BIP liegen sie um etwa 25 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Ganz offensichtlich liegt es nicht daran, dass der Bedarf nicht da wäre, denn eine von drei großen europäischen Kommunen klagt über zu geringe Infrastrukturinvestitionen. Vielmehr hat der öffentliche Sektor während der Krise die für Infrastruktur bestimmten Mittel lieber in anderen Bereichen ausgegeben. Auch das Wissen, wie man Infrastrukturprojekte entwickelt, hat abgenommen. Die Projektplanungs- und ‑entwicklungskompetenzen sind schwach. Wir brauchen klarere Anreize, damit der private und der öffentliche Sektor zusammenarbeiten, und mehr Unterstützung für die Projektplanung und die Projektvorbereitung.
Um hier effizient gegenzusteuern, müssen wir in erster Linie am institutionellen Rahmen arbeiten. Für 43 Prozent der Städte und Gemeinden stellt die technische Planungs- und Projektentwicklungskapazität ein Hauptproblem dar. Schwierigkeiten bei der Strukturierung öffentlich-privater Partnerschaften führen dazu, dass es keine klaren Anreize für die Beteiligung des Privatsektors gibt. In Regionen mit einem guten institutionellen Rahmen sind Unternehmen dreimal häufiger innovativ und beantragen neunmal häufiger Patente. Auch die Regulierung des Geschäftsumfelds und des Arbeitsmarkts ist für viele Firmen ein großes Investitionshemmnis.
Nichtstun kommt uns teuer zu stehen
An der EIB-Umfrage zur Investitionstätigkeit in den Bereichen Digitalisierung und Qualifikation beteiligten sich 1 700 Unternehmen aus der EU und den USA. Erstmals wird dabei der Digitalisierungsgrad direkt verglichen. Aus der Umfrage geht hervor, dass Unternehmen, die digitale Technologien einsetzen, in der Regel produktiver und innovativer sind und mehr investieren. Offenbar steigern digitale Technologien den Umsatz: 50 Prozent mehr Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe und über 60 Prozent mehr im Dienstleistungssektor erklären, dass ihr Umsatz ohne digitale Technologien niedriger gewesen wäre.
Noch beunruhigender: Wer nicht früh genug auf den Zug aufspringt, kann später kaum noch aufholen – es scheint ein „Winner-takes-all“-Markt zu sein. Einerseits verbindet man die Digitalisierung mit höheren Preisen, was auf zu wenig Wettbewerb schließen lässt. Andererseits sind vor allem die produktivsten digitalisierten Unternehmen der Meinung, dass ihr Konkurrenzdruck eben durch die Digitalisierung zurückgehen wird. Der späte Umstieg auf digitale Technologien könnte also die Wettbewerbsfähigkeit auf lange Zeit hinaus schwächen.
Da disruptive Technologien immer wichtiger werden, hat das Nichtstun einen hohen Preis. Bis jetzt haben europäische Industrieunternehmen bei der Einführung digitaler Lösungen mit den USA Schritt gehalten; im Dienstleistungssektor liegen sie zurück. Die Kluft zwischen Europa und den USA ist noch größer, wenn man die am weitesten entwickelten Bereiche der Digitalisierung (Internet der Dinge, Big Data und Softwareentwicklung) betrachtet.
Auf allen Ebenen ansetzen
Europas Wirtschaft fehlt noch immer das „Rüstzeug“, um die drängenden Aufgaben der Zukunft zu bewältigen. Wie kann es gelingen, angesichts rascher Innovation und Digitalisierung global wettbewerbsfähig zu bleiben, nachhaltig zu handeln und eine gerechte Gesellschaft für alle zu schaffen? Dafür müssen wir auf allen Ebenen ansetzen – nicht zuletzt auf europäischer Ebene. Wir müssen europaweit zusammenarbeiten, um die Mittel dorthin zu leiten, wo sie am produktivsten sind. Außerdem müssen Investoren erkennen, dass auch außerhalb ihrer Heimatländer Chancen bestehen. Durch die Kapitalmarktunion und die Bankenunion müssen wir die Finanzintegration verbessern. Aber wir müssen auch die Institutionen und die Instrumente nutzen, die uns mit der EU zur Verfügung stehen, so auch die EIB und den EU-Haushalt.
Wenn wir Europa mit neuem Rüstzeug versehen, muss dies sozial und ökologisch geschehen. Wir müssen die Auswirkungen der Automatisierung auf Beschäftigung und Qualifikation ebenso berücksichtigen wie Fragen der Cybersicherheit und Data Governance. Nicht zuletzt ist bei den Investitionen in den Klimaschutz ein großer Sprung nach vorne nötig.