Iliyana Tsanova, stellvertretende geschäftsführende Direktorin des Europäischen Fonds für strategische Investitionen, und Roger Havenith, stellvertretender geschäftsführender Direktor des Europäischen Investitionsfonds, über Europas Chancen im Wettbewerb mit den USA und Asien
Dieser Artikel wurde ursprünglich vom Weltwirtschaftsforum veröffentlicht.
Europa fällt bei der technischen Innovationsfähigkeit weiter zurück. Nach den USA und Japan liegt seit Kurzem auch China mit Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) von 2,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor der EU. Europäische Unternehmen unter den 15 größten Digitalunternehmen der Welt? Fehlanzeige. Europa verliert an Einfluss. Das hat neben Wachstums- und Beschäftigungseinbußen noch weiter reichende Folgen. Weltweite Standards und Vorschriften etwa könnten künftig von anderen bestimmt werden.
Dabei gibt es in Europa nach wie vor genug innovative Ideen und kluge Köpfe mit Unternehmergeist. Das Problem ist, dass die meisten europäischen Unternehmen nicht über die Start-up-Phase hinauskommen. Und wenn doch, dann kehren sie Europa bald den Rücken. So wie Skype, Beddit, Shazam oder Minecraft. Sie alle wurden von Tech-Größen wie Apple oder Microsoft aufgekauft.
Die Ursachen für diese Entwicklung lassen sich an drei Stichworten festmachen: Finanzierung, Fragmentierung, Mentalität.
1. Finanzierung
Die Industrie 4.0 verspricht außergewöhnliche Chancen und Vorteile. Aber ohne erhebliche langfristige Investitionen in neue Spitzentechnologien bleibt sie Zukunftsmusik. In den USA basierte das Wirtschafts- und Produktivitätswachstum der letzten Jahrzehnte vor allem auf zwei Faktoren: der technischen Entwicklung und den Investitionen in geistiges Eigentum (sogenanntes geduldiges Kapital).
In Europa suchen junge Unternehmen geduldiges Kapital in einer vergleichbaren Größenordnung vergeblich. Anderswo nicht: Mehr als 60 Prozent aller chinesischen Investitionen in Europa werden von staatlichen Unternehmen getätigt. Diese verfügen über die entsprechende institutionelle Unterstützung und Zugang zu günstigem Kapital für ihre Investments.
Zwar hat sich in Europa auf den Märkten für Risikokapital in den letzten Jahren einiges getan, aber es mangelt noch immer an einer kritischen Masse. Vor allem in zwei Phasen fehlt Kapital: zunächst in der Frühphase, wenn es darum geht, neue Ideen kommerziell umzusetzen. 2015 waren die Investitionen in der Früh- und Seed-Phase in den USA neunmal so hoch wie in der EU.
Die zweite kritische Phase ist die Wachstumsphase. Die Unternehmen sind mittlerweile etabliert und brauchen Kapital, um zu wachsen und neue Märkte zu erschließen. Auch in dieser Phase haben die USA die Nase vorn: Hier waren die Investitionen im Jahr 2015 mehr als 20 Mal so hoch wie in der EU.
Trotz seiner Spitzenleistungen in der akademischen Forschung verliert Europa beim Aufbau neuer Unternehmen den Anschluss. Können wir es uns wirklich leisten, dass sich Unternehmen und Gründer ihre Risikofinanzierung anderswo suchen?
2. Fragmentierung
Brüssel wird oft vorgeworfen, die Unternehmen durch zu viel Bürokratie und unnötige Regelungen zu belasten. Wenn die EU irgendwo ansetzen sollte, dann bei den unterschiedlichen Vorschriften, Steuern und Standards der 28 Mitgliedstaaten. Sie behindern grenzüberschreitende Investitionen und die unternehmerische Expansion ganz erheblich.
Auch auf anderen Ebenen ist Europa fragmentiert, z. B. bei den Investitionen in Innovationen. Laut Eurostat gaben Schweden und Österreich 2016 mehr als drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für FuE aus. Neun EU-Länder kamen nicht einmal auf ein Prozent. Die unterschiedlichen nationalen Strategien und Schwerpunkte und das Potpourri aus Rechtsvorschriften in Europa sind echte Hindernisse im internationalen Konkurrenzkampf.
3. Mentalität
Viele Innovationshindernisse in Europa lassen sich auch mit der fehlenden Risikomentalität erklären. Weil Risikokapital Mangelware ist, müssen europäische Unternehmer vor allem auf Bankkredite, also risikoscheues Kapital zurückgreifen.
Hinzu kommt, dass europäische Unternehmen und Organisationen beim Kauf neuer Produkte von jungen, innovativen Firmen zurückhaltend sind. Sie vertrauen lieber bekannten Marken. Laut dem Investitionsbericht 2018/2019 der EIB beschränken sich in der EU doppelt so viele Unternehmen wie in den USA darauf, eingeführte Innovationen zu übernehmen. Nur acht Prozent der Firmen bringen neue Produkte auf den Markt. Da verwundert es nicht, wenn sich junge Unternehmer in Richtung USA orientieren. Dort sind die etablierten Unternehmen eher bereit, neue Produkte zu testen und mit neuen Technologien zu experimentieren.
Intelligente Politik für ein intelligentes Wachstum
1. Mehr geduldiges Kapital, mehr Risikokapital
Es gibt jedoch auch gute Nachrichten. So hat sich das Angebot an Risikokapital in Europa in den letzten fünf Jahren verdreifacht – auf 18 Milliarden Euro. Die öffentliche Unterstützung spielte dabei eine entscheidende Rolle. Sie sorgte nach der Krise europaweit für wichtige Impulse in der Risikofinanzierung. Finanzierungsinstrumente der EU wie der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) oder die InnovFin-Initiative haben die Innovationsfinanzierung in Europa grundlegend verändert. Sie haben das Risiko für Dritte verringert und in großem Stil private Investitionen mobilisiert. Letztere werden attraktiver, sodass in ganz Europa neue Märkte für Risikokapital entstehen.
Öffentliche Mittel sind und bleiben entscheidend, wenn es darum geht, in Europa Grundlagenforschung zu finanzieren oder privates Risikokapital zu mobilisieren. Die Europäische Kommission hat interessante Vorschläge für die nächste Haushaltsperiode gemacht: 1) einen deutlichen Ausbau ihres zentralen Instruments für FuE-Investitionen – Horizont Europa –, mit dem digitale Kompetenzen, Cybersicherheit, Hochleistungsrechentechnik und künstliche Intelligenz finanziert werden sollen, und 2) eine Haushaltsgarantie über 38 Milliarden Euro im Rahmen von InvestEU. Sie soll den Erfolg des EFSI fortsetzen. Aber ist das genug?
Wenn die EU international wettbewerbsfähig bleiben will, muss sie Risikokapitalfinanzierungen in einer völlig neuen Größenordnung fördern. Dazu muss sie Unternehmen unterstützen, die strategisch wichtige Sektoren weiterentwickeln, sie muss die Innovations-Champions der Zukunft fördern, und sie muss langfristige Eigenkapitalbeteiligungen an europäischen Unternehmen in Schlüsselsektoren aufbauen. Um an die weltweite Spitze zu kommen, brauchen wir mehr geduldiges Kapital – und zwar sehr viel mehr.
2. Mehr Engagement der Länder
Auf politischer Ebene strebt die EU einheitliche Standards in ihren Mitgliedstaaten an. Die Kapitalmarktunion und der digitale Binnenmarkt sollen viele der Probleme lösen, die durch die Fragmentierung des europäischen Markts bedingt sind. Ein wichtiger Schritt in Richtung eines einheitlichen digitalen Binnenmarkts war die Abschaffung der Roaming-Gebühren im Juni 2017. Das Gleiche gilt für die Datenschutz-Grundverordnung und die Zahlungsdiensterichtlinie. Sie sollen das Umfeld für Unternehmen im digitalen Sektor vereinheitlichen und gleichzeitig die Bürgerinnen und Bürger schützen.
Letztlich sind es jedoch die Länder, die durch Reformen Bürokratie abbauen und Standards vereinheitlichen müssen. Andernfalls kann die Digitalwirtschaft nicht florieren. Eins ist dabei klar: Die Wettbewerbsfähigkeit der EU steht und fällt mit dem Binnenmarkt. Kein europäisches Land hat die kritische Masse, um im weltweiten Wettbewerb allein zu bestehen. Angesichts der grenzüberschreitenden Liefer- und Wertschöpfungsketten bedarf es einer engeren Zusammenarbeit und eines passenden Finanzierungsinstrumentariums, um politische Ziele durchzusetzen und industrielle Spitzenleistungen zu fördern. So könnte Europa noch den nötigen Rückenwind bekommen.
3. Mehr Offenheit für den technischen Wandel
Europa kann seine Mentalität nicht über Nacht ändern. Wir sehen aber, wie der technische Wandel und die Digitalisierung Leben, Arbeit, Einkaufsverhalten, Kommunikation und sogar die Partnersuche verändern. Die Menschen nehmen diese Veränderungen an. Das muss die Politik auch tun. Sie muss offen sein für die Dynamik hinter diesen Veränderungen.
Eine Anpassung der Bildungspolitik ist wahrscheinlich nicht zu erwarten, aber es gibt zahlreiche Möglichkeiten, um die Risikobereitschaft in Europa zu fördern. In vielen Ländern lässt sich mit öffentlichen Maßnahmen für ein besseres Investitionsumfeld eine bleibende Wirkung erzielen: Sie bringen Risikokapitalinvestitionen auf den Weg, mobilisieren Kapital und fördern innovative Projekte mit starker Katalysatorwirkung.
Bulgarien, das Baltikum und Griechenland etwa haben durch öffentliche Ankerinvestitionen kürzlich einen regelrechten Risikokapitalboom erlebt – obwohl diese Finanzierungsform dort bisher eher ein Schattendasein fristete. Denn öffentliche Maßnahmen, die das Eis brechen, können im Risikokapitalmarkt langfristig sehr viel bewirken.
Europa muss mehr tun
Europa hat im Wesentlichen alles, was es für eine erfolgreiche Innovationsstrategie braucht: ein starkes wissenschaftliches Fundament, einige der besten Universitäten und Forschungseinrichtungen der Welt, qualifizierte Arbeitskräfte, eine unternehmerfreundliche Politik sowie überaus innovative Unternehmen. Um aber im ständigen globalen Wettbewerb zu bestehen und in stark innovationsabhängigen Schlüsselbranchen nicht weiter zurückzufallen, muss Europa mehr tun.
Die EU hat gezeigt, dass sie wirksame Instrumente entwickeln kann, um privates Kapital zu mobilisieren und Innovationsimpulse zu geben. Diese Instrumente müssen stärker und umfangreicher genutzt werden. Und sie müssen so gestaltet werden, dass sie die Fragmentierung in Europa verringern, dass sie die größtmögliche Katalysatorwirkung entfalten und dass sie erfolgreich privates Kapital mobilisieren. Darum geht es jetzt. Die Verhandlungen für die neue Haushaltsperiode sind in vollem Gange – genau der richtige Zeitpunkt, um der Innovation in Europa den entscheidenden Schub zu geben.