Wir müssen den Blick weiten und alle Bereiche einbeziehen, in denen Frauen unfair behandelt werden
In meiner langen Karriere als Gender- und Entwicklungsexpertin wurde ich oft gebeten, eine sogenannte „Genderbox“ für Artikel oder andere Publikationen zusammenzustellen. Das hieß normalerweise: kurz und knackig zusammenfassen, welche Genderinitiativen die Organisation im Zeitraum x gestartet oder umgesetzt hatte. Solche Genderboxen sollen zumeist zweierlei: signalisieren, dass die Genderfrage wichtig ist, und die Schreibenden vor dem Vorwurf schützen, das Thema vergessen zu haben.
Ich habe viele dieser Genderboxen geliefert, nicht immer kurz und knackig, aber doch meist prägnant und auf den Punkt gebracht. Was ich dabei gelernt habe: Sie verfehlen oft ihre gewünschte Wirkung. Deshalb müssen wir diese Boxen aufbrechen!
Gender ist Teil von allem
Wir sollten den Blick weiten und unsere wichtigen Initiativen nicht auf einen knappen Text in einer Genderbox zusammenschrumpfen. Das Thema Gender gehört überall dazu und sollte bei allem, was wir tun, mitgedacht werden – so, wie der Klimaschutz.
- Genderstorys, auch prominent platzierte, reichen nicht aus; sie bringen kein tieferes Verständnis, wo wir stehen und wo wir hinmüssen
- Wir brauchen mehr als Erfolgsstorys. Wir müssen zeigen, wie sich Initiativen mit Genderfokus wirtschaftlich auszahlen und welchen Entwicklungseffekt sie haben. Dann können wir besser deutlich machen, warum das Thema so wichtig ist, wo wir noch Defizite haben und wo wir ansetzen sollten
- Wir können Fallstudien zu Genderthemen mit aussagekräftigen Daten und Genderanalysen untermauern und sie in unseren Publikationen in spannende Geschichten packen. An solchen Storys und überzeugenden Daten bleiben die Leserinnen und Leser hängen und steigen tiefer in das Thema ein
- Mit einem ganzheitlichen Ansatz in unserer gesamten Kommunikation stoßen wir die nötigen Systemveränderungen an und ermutigen mehr Menschen zu innovativen Denkansätzen und Initiativen, um die Genderkluft zu schließen
Lange Zeit konzentrierte sich die Europäische Investitionsbank bei ihren Gender- und Klimaaktivitäten auf den „Schutz“ vulnerabler Gruppen (darunter Frauen) vor den Folgen des Klimawandels. Dabei übersahen wir aber, dass Frauen ein wesentlicher Bestandteil der Klimalösung sind und wir sie deshalb in alle Bereiche unserer Klimaarbeit einbeziehen müssen. Immer mehr Daten belegen, dass es wirtschaftlich sinnvoll ist, Klimaprojekte durch die Genderbrille zu betrachten, und dass dies auch der Entwicklung dient.
Wir sollten Frauen also in alle Aspekte von Klimaprojekten einbeziehen: Finanzierung, Beschäftigung und Entwicklung. Studien zeigen, dass Frauen häufiger Firmen gründen, die Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen. Zudem bemühen sich Unternehmen mit mehr Frauen im Management eher um Kosteneinsparungen und investieren häufiger in eine bessere Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Ist das nicht ein viel überzeugenderes Narrativ als ein paar Genderboxen, die wir abhaken?
Eine vielfach ungenutzte Chance
Finanzierungen für Gründerinnen stärken nicht nur Unternehmen von Frauen, sondern verbessern auch das Leben für die Beschäftigten, deren Familien und die lokale Gemeinschaft. Darin schlummern gewaltige Investitionschancen. Deshalb sollten sich Finanzinstitute gerade um Frauen kümmern, die kein Bankkonto haben und keinen Kredit oder sonstige Finanzierungen erhalten.
Damit stärken sie im Gegenzug auch das Engagement der Europäischen Investitionsbank. Laut der International Finance Corporation sind annähernd ein Drittel aller Firmen weltweit in Frauenhand, aber fast 68 Prozent von ihnen haben Mühe, einen guten Kredit zu erhalten. Hinzu kommt: In Start-ups von Frauen wird nicht halb so viel Geld investiert wie in Neugründungen von Männern. Und das, obwohl:
- Frauen mit ihren Firmen einen doppelt so hohen Ertrag je investierten Dollar erwirtschaften wie Männer;
- Firmen, die mindestens die Hälfte ihrer Leitungspositionen mit Frauen besetzen, ein stärkeres Umsatzwachstum, bessere Ergebnisse und eine bessere Gesamtkapitalrendite erzielen – und in Krisenzeiten auch an der Börse besser abschneiden.
Solche Erfolgsstorys füllen wir nicht in einer Genderbox mit Leben, sondern indem wir Geschichten erzählen, die die Gesichter hinter den Zahlen zeigen. Zum Beispiel die der Frauen an der Spitze des Alithea IDF, Afrikas ersten von Frauen geführten Private-Equity-Fonds für Frauen. Die beiden Gründungspartnerinnen Polo Leteka und Tokunboh Ishmael verändern mit ihrem visionären Engagement das Leben Hunderter Menschen. Sie zählen zu den Vorreiterinnen in Sachen profitable Investments mit Genderfokus.
Alle Aspekte eines Projekts im Blick
Nicht zu vergessen sind auch die Argumente für einen gendergerechten und nachhaltigen Verkehr – zu viele für eine kurze, knackige Genderbox. Hätten Sie gewusst, dass genderbewusst geplante Verkehrssysteme Frauen vielfältige wirtschaftliche Chancen eröffnen, die Produktivität eines ganzen Landes verbessern und das Bruttoinlandsprodukt steigern können? Eine Umfrage von 2018 ergab, dass 47 Prozent der Frauen in Jordanien Stellen ablehnten, weil es keine bezahlbaren und sicheren öffentlichen Verkehrsmittel für den Weg zur Arbeit gab.
Aber auch hier geht es um mehr: Wie bei anderen Projekten müssen wir auch im Verkehr die Gendergerechtigkeit überall mitdenken. Wenn mehr Frauen im Verkehrssektor arbeiten und dort Führungspositionen bekleiden, kommen wir beim nachhaltigen Verkehr und Klimaschutz vermutlich schneller voran als mit einer reinen Männerriege. Würden wir in der Planung und im Betrieb die Sichtweise von Frauen berücksichtigen, könnten wir den Energieverbrauch und die Emissionen im Personenverkehr um 29 Prozent senken.
Beim Ausbau der Metro im indischen Bangalore war Gendergerechtigkeit ein großes Thema. Viele Frauen fühlten sich nicht wohl, wenn sie allein fuhren. In diesem Video erfahren Sie, wie die Europäische Investitionsbank Maßnahmen förderte, die die Sicherheit und den Frauenanteil unter den Beschäftigten erhöhten (sodass jetzt auch mehr Frauen die Metro nutzen). Mithilfe der Bank der EU wurden eigene Wagen für Frauen eingeführt, Ziele für die Einstellung von Schaffnerinnen festgelegt, flexible Arbeitszeiten ermöglicht, Frauentoiletten eingerichtet und Kita-Angebote geschaffen.
Wohnen ist ein weiteres Feld, auf dem Gleichstellung ein wichtiges Thema ist. Im April 2021 vergab die Europäische Investitionsbank 27 Millionen Euro an die Stadt Valencia für bezahlbare kommunale Wohnungen, die besonders für Frauen gedacht sind. Mit dem Geld sollen 323 Mietwohnungen in energieeffizienten Gebäuden entstehen und vier Gebäude in der Stadt saniert werden. Das Projekt soll gezielt einkommensschwachen Menschen, Alleinerziehenden und Opfern häuslicher Gewalt helfen.
In Genderfragen den Blick zu weiten, hat mich auf meinem gesamten Berufsweg beschäftigt und erfüllt. Die Europäische Investitionsbank geht diesen Weg mit: Als erste multilaterale Entwicklungsbank hat sie 2019 die internationalen Kriterien der 2X Challenge für gendergerechte Finanzierungen übernommen. Und sie hat mit Erfolg die Initiative SheInvest ins Leben gerufen, ein leuchtendes Beispiel für das transformative Potenzial von Investitionen mit Genderfokus. Die Initiative stärkt lokale Gemeinschaften und fördert die wirtschaftliche Selbstbestimmung von Frauen in Afrika.
Seit dem Start von SheInvest Ende 2019 haben wir mehr als zwei Milliarden Euro für Projekte mit Genderfokus mobilisiert – für einen besseren Zugang zu Finanzierungen und für gezieltes Coaching und maßgeschneiderte Produkte, die das wirtschaftliche und soziale Potenzial der Gendergerechtigkeit freisetzen.
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