Hirnimplantate aus Graphen eröffnen neue Chancen zur Behandlung neurologischer Erkrankungen

Computerchips, die ins Gehirn eingepflanzt werden – aus dem Kino kennen wir das schon lange. Die Internet Movie Database findet allein 55 Science-Fiction-Filme und Fernsehshows zum Thema Hirnimplantate.

Jetzt aber könnten die Chips im Gehirn bald zu den Technologien zählen, die es aus der Science-Fiction in die reale Welt geschafft haben. Vielleicht bieten sie uns noch in diesem Jahrzehnt revolutionäre Lösungen für einen wachsenden medizinischen Bedarf. Das spanische Start-up INBRAIN beginnt demnächst eine klinische Studie mit einem Graphen-Chip, der Patienten ins Gehirn eingepflanzt wird. Graphen ist hochleitend, 200 Mal so stark wie Stahl und nur ein Atom dick.

„Der große Vorteil von Graphen ist: Wir können daraus einen minimalinvasiven, hochgradig biokompatiblen Chip fertigen, der eine unglaublich hohe Empfindlichkeit und Signalauflösung mit einem geringen Strombedarf verbindet“, erklärt INBRAIN-Chefin Carolina Aguilar.   

An Hirnimplantaten arbeiten auch andere – Elon Musk zum Beispiel, mit seiner Firma Neuralink. Aber nur INBRAIN verwendet für die Chips Graphen und konnte sich so die Einstufung als „Breakthrough Device“ durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA sichern. Damit ist der Weg frei für ein beschleunigtes Zulassungsverfahren. Das erlaubt die FDA bei neuen Medizinprodukten, die einen Durchbruch darstellen oder hinreichend gezeigt haben, dass sie erhebliche Vorteile gegenüber bestehenden Alternativen bringen.

Wundermaterial Graphen

Graphen ist im Grunde eine einzige Schicht von Kohlenstoffatomen, die als sechseckiges Gitter angeordnet sind. Das zweidimensionale Material ist nur ein Millionenstel so dick wie ein menschliches Haar. Es verfügt über herausragende mechanische Eigenschaften und ist ein erstklassiger Strom- und Wärmeleiter. Der Werkstoff ist transparent, aber gleichzeitig gasundurchlässig und hochstabil. Kurzum: ein Wundermaterial mit großem Potenzial etwa für die Elektronik, Energiespeicherung und Biomedizin.

Graphen war eigentlich ein Zufallsfund. Die Physiker Andre Geim und Konstantin Novoselov von der University of Manchester entdeckten ihn quasi im Abfalleimer – an einem Klebeband, mit dem eine Grafitprobe fürs Mikroskop gereinigt worden war. Mit ihrer wegweisenden Arbeit zu Graphen gewannen sie 2010 den Nobelpreis für Physik. Novoselov steht INBRAIN heute als Berater zur Seite.

INBRAINs „System auf einem Chip“ enthält hautähnliche neuronale Schnittstellen aus Graphen und einen drahtlos wiederaufladbaren neuronalen Prozessor, der zusammen mit neuester Software für maschinelles Lernen die Abbildung, Entschlüsselung und Modulation von Nervensignalen im Gehirn ermöglicht. So erkennt das System unregelmäßige Signale, die etwa bei Parkinson ein unkontrolliertes Zittern, Steifheit und Gleichgewichtsstörungen auslösen. Mittels elektrischer Impulse moduliert es die Signale und behebt damit in Echtzeit die Symptome. In der Zukunft soll das System auch in der Lage sein, Gedanken in Sprache umzuwandeln. Das könnte bei lähmungsbedingten Sprachstörungen etwa nach Schlaganfällen helfen.



Riesiges Potenzial

„Das Potenzial ist riesig“, sagt Valeria Iansante, die als Life Science Specialist bei der Europäischen Investitionsbank arbeitet. Die Bank vergab dieses Jahr 20 Millionen Euro als Venture Debt an INBRAIN. Für die Firma ist das ein zusätzliches Liquiditätspolster, nachdem sie zuvor bereits erfolgreich Risikokapital eingesammelt hatte.

Venture Debt ist ein Kredit an Start-ups in der Frühphase, damit diese zwischen ihren Eigenkapitalrunden liquide bleiben. Das hilft jungen Unternehmen, ihr Wachstum zu finanzieren, ohne dass es die Bewertung beeinträchtigt oder das Kapital der Gründer oder frühen Anteilseigner verwässert.



„Was das Unternehmen im Bereich Hirn-Computer-Schnittstellen und Neuromodulation erreichen will, ist wirklich ein Durchbruch“, so Iansante. „Die Technologie bietet bemerkenswerte Chancen für die Behandlung neurologischer Erkrankungen – Parkinson etwa und vielleicht auch Epilepsie, Depressionen oder sogar Sprechstörungen. Deshalb freuen wir uns, dass wir dieses Unternehmen unterstützen können.“

Die EIB ist nicht die einzige, die das Potenzial von INBRAINs Technologie erkannt hat: Europas ältestes Pharmaunternehmen, der deutsche Gesundheits- und Technologiekonzern Merck KGaA aus Darmstadt, unterzeichnete 2021 eine Entwicklungskooperation mit INBRAIN. Gemeinsam wollen die Partner an bioelektronischen Vagusnerv-Therapien der nächsten Generation arbeiten, um entzündliche und andere chronische Erkrankungen besser zu behandeln. 

INBRAIN mit Sitz in Barcelona ist eine europäische Erfolgsstory für die öffentlich finanzierte Forschung und Barcelonas Hightech-Szene. Das Unternehmen wurde 2020 gegründet, als Spin-out des Katalanischen Instituts für Nanowissenschaften und Nanotechnologie (ICN2). Zunächst wurde es unter der EU-Initiative Graphene Flagship finanziert, einem mit einer Milliarde Euro ausgestatteten zehnjährigen Forschungsprogramm, das 2013 aufgelegt wurde, um eine abgestimmte Graphenforschung in Europa zu fördern.

„Wir haben immer die Rückendeckung durch die Europäische Union gespürt“, sagt Aguilar. „Es ist wichtig, dass die EU bei Innovationen hochambitioniert ist und sich Gedanken macht, wie sie Start-ups wie unseres unterstützen kann. Die EIB spielt in diesem Ökosystem eine wichtige Rolle. Für uns ist sie ein großartiges Instrument der EU, um zusätzliche Mittel zu gründerfreundlichen Konditionen zu erhalten.“