Der größte Flughafen Estlands führt Modernisierungsmaßnahmen durch, um mit den extremen Wetterbedingungen und mit den Umweltauswirkungen des vielen Enteisens fertig zu werden.
In Tallinn fällt im Winter jeden Monat ein halber Meter Schnee. Der Minusrekord liegt bei -32,2 Grad Celsius. Aufgrund des Klimawandels wird das Wetter in der estnischen Hauptstadt, die auf demselben Längengrad wie St. Petersburg und Stockholm liegt, immer unvorhersehbarer. So hat es in diesem Jahr zum Beispiel sehr früh begonnen zu schneien. „Wir rechnen am Tallinner Flughafen ja mit vielem. Aber Schnee im Oktober? Das war doch eine ganz schöne Überraschung“, sagt der für den Flughafenbetrieb zuständige Direktor Einari Bambus. Bis Anfang Dezember wurde tonnenweise Schnee auf Deponien neben den Start- und Landebahnen verschoben, der dort bis in den Sommer hinein noch schmilzt.
Passagiere, die auf ihren Abflug warten, fragen sich deswegen vielleicht: „Brauchen Flugzeuge eigentlich Winterreifen?“
Ein wenig Zucker, ein wenig Salz und etwas Enteisungsmittel
„Viele meinen, dass wir umso mehr Eis und Schnee entfernen müssen, je kälter es ist. Das stimmt so aber nicht“, erklärt Einari Bambus, der auch im Vorstand des Tallinner Flughafens vertreten ist. „Für Flugzeuge ist es am kritischsten, wenn die Luft sehr feucht ist und die Temperatur knapp unter den Gefrierpunkt sinkt, etwa zwischen 0 und -5 Grad.“
Gerade diese Wetterlage ist typisch für die am Meer gelegene Stadt Tallinn. Deswegen müssen viele Chemikalien gegen Schnee und Schneeregen eingesetzt werden. Derzeit führt der Flughafen Modernisierungsmaßnahmen für 80 Millionen Euro durch. Dazu zählen der Ausbau der Entwässerungsanlagen, damit die Chemikalien aus dem Enteisungsgranulat und den Flüssigkeiten herausgefiltert werden können, eine neue Schneedeponie und die Erneuerung des luftseitigen Beleuchtungssystems durch LED-Lampen, die sich nicht aufheizen – wodurch die Piste noch mehr vereisen würde. Für diese Maßnahmen hat die Europäische Investitionsbank ein Darlehen in Höhe von 30 Millionen Euro vergeben. Das Darlehen wird im Rahmen des Investitionsplans für Europa durch den Europäischen Fonds für strategische Investitionen besichert, den die EIB mit eigenen Mitteln und mit einer EU-Haushaltsgarantie im Rücken betreibt.
Wenn Straßen und Gehwege von Schnee und Eis befreit werden, kommen in der Regel Salzprodukte zum Einsatz. Bei Flugzeugen würde dies jedoch zu Korrosion führen. Tatsächlich werden die Flugzeuge stattdessen vor dem Start mit einer Flüssigkeit auf Zuckerbasis – oder vielmehr mit Nebenprodukten der Zuckerrübenverarbeitung – eingesprüht, damit die beweglichen Teile nicht einfrieren, wenn das Flugzeug in Höhen mit noch kälteren Temperaturen steigt.
Kein lästiges Fensterkratzen
Uns mögen vielleicht ein paar Liter Frostschutzmittel den ganzen Winter für die Windschutzscheiben unserer Autos reichen – abgesehen von den vielen Stunden, die bei Nicht-Garagenbesitzern für das allmorgendliche Kratzen zusammenkommen. Um jedoch ein Flugzeug nur ein einziges Mal mit Frostschutzmittel einzusprühen, sind gut und gerne 300 Liter Flüssigkeit notwendig.
Danach beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Das Enteisungsmittel senkt den Gefrierpunkt des Wassers. Je nach eingesetzter Menge wirkt es für zehn bis fünfzehn Minuten. Wenn der Wind am Tallinner Flughafen aus dem Westen kommt, braucht das Flugzeug bis zur Startbahn gut fünf bis sieben Minuten. Falls ein anderes Flugzeug zu spät kommt und sich der Start deswegen verzögert, wird die Sache mit dem Eis zu riskant. Dann muss das Flugzeug erneut eingesprüht werden. Das kostet nicht nur viel Geld, sondern ist auch noch schädlich für die Umwelt.
Deswegen soll nach der Modernisierung die Enteisung auch direkt an der Startbahn vorgenommen werden können und nicht nur am Gate.
„Ein Flughafen, der so weit im Norden liegt wie der Tallinner Flughafen, muss unbedingt über die neuesten Technologien verfügen, mit denen der Großteil der verwendeten Enteisungsmittel aufgefangen und aufbereitet werden kann“, so Elena Campelo, Ingenieurin in der EIB-Hauptabteilung Luft- und Seeverkehr und innovative Verkehrskonzepte. „So kann das Grundwasser vor dem Einsickern des schmelzenden Schnees und der Enteisungsmittel geschützt und das Wasser aufbereitet und kontrolliert werden.“
Am Flughafen von Tallinn werden auch die Start- und Landebahn und das Abfertigungsgebäude umgebaut und die Brandschutz- und Rettungsausrüstung erneuert.
Damit soll der Flughafen umweltfreundlicher und sicherer werden, und die derzeitigen Engpässe an dem Haupteintrittspunkt nach Estland werden beseitigt. Der Flughafen will sich außerdem auf ein höheres Verkehrsaufkommen vorbereiten. „Künftig können dort 3,4 Millionen Fluggäste pro Jahr abgefertigt werden statt wie bisher 2,2 Millionen“, sagt Thomas Schmidt, EIB-Kreditreferent für Estland.
Mehr Passagiere bedeuten automatisch mehr Flugzeuge. Für einen unterbrechungsfreien Flugbetrieb muss der Flughafen deswegen Schnee und Eis so effizient wie möglich – und gleichzeitig umweltschonend – beseitigen können.