Italienisches Unternehmen macht aus Obsttrester umweltverträgliche Stoffe
Viele Dinge in unserem Alltag haben versteckte Kosten. So auch das Glas Orangensaft am Morgen.
Dabei landen jedes Mal 40 bis 60 Prozent der Frucht – Schale, Fleisch, Kerne – im Abfall. Allein in Italien fallen so jährlich eine Million Tonnen Reste aus Zitrusfrüchten an.
Für ein Forschungsprojekt stellte die sizilianische Modedesign-Studentin Adriana Santanocito 2012 in Mailand eine gewagte Frage: Wie wäre es, aus den Unmengen von Abfällen einen nachhaltigen Bekleidungsstoff herzustellen?
Ihre Freundin und Projektpartnerin Enrica Arena – ebenfalls aus Sizilien – erkannte das Potenzial hinter der Idee. Auch für ihre Heimatregion.
Gemeinsam mit einem Professor der Polytechnischen Universität Mailand machten sie sich an die Arbeit und prüften zunächst, ob die Idee technisch überhaupt machbar ist. 2013 fanden sie eine Lösung, um aus Trester Zellulose zu extrahieren und daraus Stoff herzustellen. Das Verfahren ließen sie sich patentieren. 2014 ging Orange Fiber an den Start.
„Von da war es ein langer Weg“, gibt Geschäftsführerin Arena zu. „Es ist kein Hexenwerk. Aber wir hatten keine Ahnung, wie lange wir rumprobieren müssen, bis das Produkt für die Branche wirklich brauchbar war.“
Bewusster Konsum trägt Früchte
In den vergangenen Jahren ist den Menschen immer stärker bewusst geworden, wie umweltschädlich die Modebranche ist. Deshalb suchten Bekleidungshersteller nach nachhaltigeren Lösungen. Zunächst begegneten sie dem Stoff von Orange Fiber mit Neugier, aber auch mit Skepsis. Das änderte sich allerdings, als der italienische Luxusmode-Hersteller Salvatore Ferragamo aktives Interesse an Orange Fiber signalisierte.
„Damit hatten wir das allererste große Modelabel in Italien für unsere Produkte gewonnen. 2017 brachten sie sogar eine eigene Kollektion damit heraus“, freut sich Enrica Arena. „Danach wurde für uns alles viel einfacher.“
Inzwischen hat das achtköpfige Team von Orange Fiber bereits über 15 000 Meter Stoff produziert und dafür mehr als 120 Tonnen Abfälle aus Zitrusfrüchten verwertet. Die Firma arbeitet mit mehreren Großunternehmen zusammen. H&M stellte aus dem Stoff eine Bluse her, die schon nach kurzer Zeit ausverkauft war. Orange Fiber beliefert auch den italienischen Krawattenkönig E. Marinella.
2021 gewann das innovative Textilunternehmen beim Wettbewerb für Soziale Innovation den mit 30 000 Euro dotierten zweiten Preis in der Kategorie nachhaltige Lebensweise. Außerdem erhielt Orange Fiber den Publikumspreis und damit weitere 10 000 Euro. Der Wettbewerb wurde vom EIB-Institut ins Leben gerufen und fördert Unternehmen, die Lösungen für ökologische und gesellschaftliche Probleme bieten. Orange Fiber hat zahlreiche weitere Auszeichnungen erhalten, darunter 2015 den „Ideas for Change Award“ der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa.
Seidenweich und nachhaltig
Orange Fiber will Stoffe herstellen, die sich luxuriös und seidig anfühlen und möglichst umweltverträglich sind. „Wir wollten zeigen, dass Produkte aus nachhaltigem Recyclingmaterial genauso hochwertig sein können wie völlig neu fabrizierte Stoffe“, erklärt Enrica Arena.
Laut Projektleiterin Alice Kaimann denkt das Unternehmen in puncto Nachhaltigkeit ständig weiter.
„Wir wollen, dass die gesamte Branche auf einen geschlossenen Kreislauf umstellt. Ziel ist die getrennte Sammlung biobasierter Materialien, die biologisch abbaubar und kompostierbar sind. Auch die Lieferkette soll grün, kurz und rückverfolgbar werden“, erklärt Kaimann.
Nun will das Unternehmen seine Fasern auch in anderen Zitrusfrüchte produzierenden Ländern wie Spanien herstellen. Das Patent von Orange Fiber gilt bereits für die Vereinigten Staaten, Brasilien, Mexiko und Indien.
„Zunächst wollen wir die Produktion in Europa aufbauen“, erklärt Enrica Arena. Dafür hofft sie auf Mittel der Europäischen Union.
In Österreich unterhält Orange Fiber bereits eine Partnerschaft mit der Lenzing Gruppe, einem international agierenden Unternehmen, das Fasern aus Holzzellstoff produziert. Gemeinsam stellen beide Unternehmen die erste Lyocellfaser der Marke Tencel her – aus Orangen- und Holzzellstoff. Unter dem Markennamen Tencel produziert Lenzing Fasern mit der Bezeichnung Lyocell und Modal. Die sind besonders weich und werden häufig für nachhaltige Mode verwendet.
Geschäftsführerin Arena ist manchmal überrascht, dass ihr aufstrebendes Unternehmen auf ein Forschungsprojekt aus Studienzeiten zurückgeht:
„Wir haben noch fünf oder sechs Jahre intensiver Arbeit vor uns, bis unser Unternehmen richtig floriert. Das begeistert mich, macht mir manchmal aber auch Angst.“