Visuelles Matheprogramm für Kinder, die nicht in ihrer Erstsprache lernen

Tahereh Pazouki kann ganz genau erklären, warum man Mathe viel leichter mit Bildern lernt.

„Ein Quadrat besteht aus vier Linien gleicher Länge, die jeweils im rechten Winkel zueinander stehen – wer das verstehen will, braucht schon einiges an sprachlichen Fähigkeiten. Mit einem Bild geht das viel einfacher, warum also das Ganze verkomplizieren?“

Genau diese Idee steckt hinter MaGrid, einem didaktischen Matheprogramm aus Luxemburg. Es will Kindern helfen, die Mathe nicht in ihrer Muttersprache erlernen, und verzichtet deshalb auf Wörter.

„In Luxemburg beginnt mit vier Jahren die obligatorische Vorschule. Dort spielen, lernen und kommunizieren die Kinder auf Luxemburgisch. Aber nicht einmal 40 Prozent von ihnen bringen von zu Hause Luxemburgischkenntnisse mit“, beschreibt Pazouki die Ausgangssituation.

Das Lernen in einer Zweitsprache wirkt sich nicht nur auf die Noten aus. „Oft leidet auch das Selbstvertrauen der Jungen und Mädchen“, weiß sie. „Viele zweifeln, ob sie ‚gut genug‘ sind, oder verlieren das Interesse am Unterricht. Bei Mathe geht es ja auch um das Lösen von Problemen und logisches Denken ganz allgemein.“

Pazouki promovierte 2014 an der Universität Luxemburg in Informatik und Psychologie. Thema ihrer Doktorarbeit war das Erlernen früher mathematischer Fähigkeiten unabhängig von der Unterrichtssprache.

„Wir haben uns mit verschiedenen Ansätzen beschäftigt. Einer davon war ein sprachneutrales Lernprogramm, das heute MaGrid heißt“, erklärt sie. „Wir haben dafür alle sprachlichen Anweisungen durch visuelle Elemente ersetzt und dieses Konzept an rund 20 Schulen in ganz Luxemburg getestet.“

Grundbausteine für den Mathe-Erfolg

Mit MaGrid erlernen Kinder zwischen drei und neun Jahren über visuell-räumliche und numerische Aufgaben die Grundbausteine der Mathematik. Über 2 500 Aufgaben stehen ihnen dafür zur Verfügung. Zusätzlich zu einer App für Tablet oder PC gibt es Begleitmaterial in Papierform.

Der Pilotversuch in den luxemburgischen Schulen war erfolgreich: Die Kluft zwischen Mutter- und Nicht-Muttersprachlern in Mathematik verschwand. Lehrerinnen und Lehrer, die MaGrid im Unterricht eingesetzt hatten, wollten das Programm und die Materialien weiter nutzen. Auch die Bilanz der Eltern fiel positiv aus.

Cíntia Ertel hat MaGrid mit ihren Kindern Benjamin (7) und Martina (5) zu Hause genutzt, als es vor einigen Jahren entwickelt wurde. Jetzt greifen sie an den schulfreien Dienstag- und Donnerstagnachmittagen oft auf das Programm zurück.

„Wir wollen nicht, dass unsere Kinder nachmittags fernsehen. Wenn wir ihnen etwas anderes vorschlagen wie lesen usw., bestehen sie auf MaGrid“, erzählt Cíntia aus dem Alltag der deutsch-brasilianischen Familie in Colmar-Berg. „Was mir an der App gefällt, ist dass die Kinder durch die Bilder eigenständig mit ihr arbeiten können.“ Vor allem ihre Tochter profitiert davon, ohne sprachliche Anweisung Schritt für Schritt Mathe zu lernen.

>@Magrid
© Magrid

MaGrid im Klassenzimmer

Im September 2020 gründete Pazouki das EdTech-Start-up LetzMath, um MaGrid zu vermarkten. Inzwischen zählt das MaGrid-Team acht, demnächst sogar zehn Mitglieder. Luxemburg führte MaGrid im März 2021 in allen öffentlichen Schulen ein. Mehr als 5 000 Schülerinnen und Schüler in 300 Schulen lernen damit Mathe und mehr. Über Pazoukis veröffentlichte Forschungsarbeiten und Empfehlungen hat es das Programm bis in Schulen in den USA, Frankreich und Portugal geschafft.

Eine Lösung für alle

Das Programm erhält von vielen Seiten Anerkennung. Beim Wettbewerb für Soziale Innovation 2021 gewann MaGrid den mit 75 000 Euro dotierten ersten Preis. Der vom EIB-Institut ins Leben gerufene Wettbewerb fördert Unternehmen, die sich ökologischer und gesellschaftlicher Herausforderungen annehmen. Zu den weiteren Awards, mit denen MaGrid 2021 ausgezeichnet wurde, zählt auch der World Summit Award for Local Digital Solutions.

LetzMath expandiert zurzeit unter anderem nach Deutschland und Belgien. Das Unternehmen setzt große Hoffnungen in seine App, mit der Eltern MaGrid zu Hause nutzen können.

„Die Idee ist nicht, Kinder vor einem Tablet oder PC zu parken. Die Geräte sollen vielmehr zu einer ‚intelligenten Tafel‘ werden, an der sich Bildschirmzeit sinnvoll nutzen lässt“, erklärt Pazouki. „Vier Mal die Woche 15 Minuten reichen völlig aus. Ich bin kein Fan davon, Kindern Technik in die Hand zu drücken und zu hoffen, dass so alle Probleme aus der Welt sind.“

>@Magrid
© Magrid

Tahereh Pazouki, der Kopf hinter MaGrid

Damit noch mehr Kinder von MaGrid profitieren können, spendet LetzMath Lizenzen: Für drei verkaufte Lizenzen geht eine kostenlos mitsamt Begleitmaterial an eine bedürftige Familie.

Bei der Entstehung von Pazoukis Projekt spielte auch ihr jüngerer Bruder eine Rolle. Er hatte in der Schule lange mit einer Lese- und Rechtschreibstörung zu kämpfen.

„Bis mein Bruder zehn wurde, hatte er Schwierigkeiten mit der Sprache. Ich habe ihm deshalb oft Dinge gezeichnet und verbale in visuelle Kommunikation übertragen. Heute ist er 22 und hat seit Kurzem seinen Abschluss als Ingenieur in der Tasche. Schon damals dachte ich mir: ‚Wenn das bei meinem Bruder funktioniert, warum nicht auch bei anderen Kindern?‘“