Spanische NGO hilft Kindern, mit Bildern besser zu lernen
Miriam Reyes arbeitete zunächst als Architektin, bevor sie ihr Interesse für Bildung und die Kraft des visuellen Lernens entdeckte. Neunzig Prozent der Informationen, die wir erhalten, sind visuell. Das menschliche Gehirn verarbeitet Bilder 60 000 Mal schneller als Text, sagt sie. Viele Studien zeigen, dass Bilder wesentlich länger im Gedächtnis bleiben.
Miriam fragte sich, warum Schulen im Zeitalter der visuellen Kommunikation so wenig Bilder im Unterricht einsetzen. Könnte ein visueller pädagogischer Ansatz die Ziele der Inklusion fördern und damit Kinder mit und ohne Lernschwierigkeiten gleichermaßen ansprechen?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, gründete sie 2012 in Sevilla gemeinsam mit Amélie Mariage die gemeinnützige Organisation Aprendices Visuales – „Visuelles Lernen“. Die Organisation hat mit ihren Büchern und Apps in fünf Sprachen bislang mehr als eine Million Schülerinnen und Schüler erreicht. Über ihre Online-Plattform haben bereits rund 35 000 Menschen an Schulungen teilgenommen. 2016 gewann Aprendices Visuales den Wettbewerb für soziale Innovation, mit dem das EIB-Institut der Europäischen Investitionsbank kreative Lösungen für gesellschaftliche Probleme prämiert.
Eins ergänzt das andere
Miriam ist von dem Thema so fasziniert, dass sie ein Aufbaustudium in Pädagogik absolviert. Sie will verstehen, wie Kinder heute unterrichtet werden und so ihr Konzept optimieren. Zunächst erstellten Miriam und Amélie bilderreiche digitale Bücher und Apps, um Kindern beispielsweise beizubringen, wie man Zähne putzt, Emotionen versteht oder Matheaufgaben löst. Das Lernmaterial stellten sie dann auf ihrer Website online, und Lehrkräfte führten es in Schulen ein.
„Im Unterricht wird normalerweise viel verbal kommuniziert. Das ergänzen wir mit visuellen Hilfsmitteln, mit denen Kinder wirklich schneller lernen. Dabei konzentriert sich jedes Tool auf ein anderes Thema. Kinder werden dadurch selbstständiger und lernen anders lesen, weil sie Bilder mit Wörtern assoziieren“, erklärt Miriam.
„Aprendices Visuales will Kindern mit Lernschwierigkeiten oder Autismus helfen, leichter zu lernen und am normalen Schulunterricht teilzunehmen“, so Miriam. „Viele autistische Kinder nehmen visuelle Informationen weitaus besser auf.“
„Wir haben auch festgestellt, dass die Kinder sehr konzentriert waren und die Bücher heiß und innig liebten – immerhin konnten sie lesen, ohne die Buchstaben zu kennen. Die Lehrkräfte nutzten den Lehrplan von Aprendices Visuales als Hilfsmittel, weil es bei Kindern mit und ohne Lernschwierigkeiten funktionierte.“
Schulen im Wandel
Das Konzept von Aprendices Visuales hat bereits viele Anhänger gefunden. Dreißig spanische Schulen wenden einen pädagogischen Ansatz mit visuellen Hilfsmitteln an – nicht nur direkt im Unterricht, sondern zum Beispiel auch bei der Beschilderung von Räumen (etwa mit Piktogrammen für Bibliothek und Lehrerzimmer) und beim Stundenplan, der die Aktivitäten des Tages in Bildern anzeigt.
Auch Samuel Sánchez Forner, Direktor des Colegio Público El Bosquín in der spanischen Provinz Asturien, ist ein Fan der Methode. Er hat die Einführung des visuellen Lehrplans und des inklusiven pädagogischen Konzepts überwacht. Als eine ihrer ersten Maßnahmen hat die Schule die Beschilderung im Gebäude angepasst, damit sich auch Kinder zurechtfinden, die noch nicht lesen können.
Er ist sich sicher: „Das Programm von Aprendices Visuales hat uns enorm geholfen, den ersten Schritt hin zu einer inklusiven Schule zu tun.“
Aprendices Visuales ist nicht gewinnorientiert, erhebt für Schulungen jedoch eine kleine Gebühr. Ein Online-Kurs zur Beschilderung kostet beispielsweise 29 Euro. Die Organisation bekommt Zuschüsse, mit denen sie Schulungen für Schulen oder Lehrkräfte finanziert, die sich die Kosten nicht leisten können. Auf ihrer Website stellt sie zwanzig Bücher und Apps kostenlos zur Verfügung. Zudem bemüht sie sich seit Beginn der Covid-19-Krise um eine möglichst weite Verbreitung ihres kostenlosen Materials, um Schulen und Eltern beim Fernunterricht zu unterstützen.
Als Nächstes will Aprendices Visuales ihr Programm weiter ausbauen. „Nachhaltigkeit und Wirkung stehen für uns an erster Stelle“, betont Miriam. „Wir sehen, dass viele Kinder diese Veränderungen in ihren Schulen wirklich brauchen, und darauf konzentrieren wir uns.“
Sie ist überzeugt, dass visuelles Lernen durch die digitale Revolution noch weiter an Bedeutung gewinnt. Erwachsene und Kinder werden täglich über mobile Geräte und Computer mit Tausenden von Bildern bombardiert. „Die Kinder wachsen in einer Gesellschaft auf, die viel stärker visuell geprägt ist als noch vor 20 Jahren. Sie brauchen diese Hilfsmittel, denn Bilder sind Teil ihrer Realität“.