Covid-19 stellt das marokkanische Gesundheitssystem vor gewaltige Herausforderungen. Die Bank der EU hilft mit schneller finanzieller Unterstützung bei der Krisenbewältigung – und bei der Schulung von medizinischem Personal für eine bessere Gesundheitsversorgung
Im Centre Hospitalier Universitaire (CHU) Ibn Rochd in Casablanca füllen sich die Betten mit Covid-19-Erkrankten. Das Krankenhaus könne den Zustrom zwar noch „bewältigen“, sagt Professor Kamal Marhoum El Filali, der die Abteilung für Infektionskrankheiten des CHU leitet. Doch wenn die Zahl der Aufnahmen weiter steige, könnten die Intensiv- und Beatmungsbetten bald knapp werden.
„Die Lage spitzt sich zu“, erklärt Dr. Marhoum.
Marokko reagierte im letzten Frühjahr mit einschneidenden Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen. Ein landesweiter Lockdown wurde verhängt, der touristische und sonstige Reiseverkehr kam zum Erliegen. Zurzeit rollt jedoch wie in vielen Teilen der Welt eine heftige zweite Infektionswelle durch das Land. Mitte November verzeichnete Marokko rund 5 000 Neuinfektionen und etwa 80 Todesfälle täglich. Mehr als 320 000 der 37 Millionen Menschen des Landes haben sich bislang mit dem Virus infiziert, rund 5 000 sind daran gestorben. Das Gesundheitssystem gerät an seine Grenzen.
Das CHU nimmt nur Erkrankte mit schwerem Covid-19-Verlauf auf, bei denen eine Intensivbehandlung oder Beatmung nötig ist. Und es behandelt eigene Mitarbeitende, die sich mit dem Virus infiziert haben. Eine der größten Herausforderungen sei derzeit die zunehmende Zahl von Beschäftigten, die erkrankt seien oder sich nach Kontakt mit dem Virus für 14 Tage in Quarantäne begeben müssten, berichtet Dr. Marhoum. „Da wir ohnehin unterbesetzt sind, stehen wir vor einem gewaltigen organisatorischen Problem.“
Der Pandemie die Stirn zeigen
Als Marokko im Frühjahr in den Lockdown ging, waren nur 77 Coronafälle bekannt. Die marokkanische Regierung hatte jedoch gesehen, wie das Virus in Spanien wütete. Und sie wusste, dass das dürftig ausgestattete marokkanische Gesundheitssystem einem solchen Ansturm nicht gewachsen wäre. „Hätte sich das Virus bei uns so ausgebreitet wie in Europa, hätte uns der Kollaps gedroht“, so Dr. Marhoum.
Dank der drastischen Maßnahmen konnte Marokko die Todeszahlen gering halten. In der ersten Welle lag die Mortalitätsrate – das Verhältnis von Todesfällen zu Gesamtinfektionen – im weltweiten Vergleich sehr niedrig. Wie in anderen Teilen Afrikas ist die niedrige Sterberate auch in Marokko auf die junge Bevölkerung zurückzuführen.
Mit den Lockdowns verschaffte sich die Regierung wertvolle Zeit, um Testzentren, Websites und Hotlines für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit einzurichten. Sie arbeitete mit globalen Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation zusammen und beschaffte dringend benötigte Mittel bei internationalen Geldgebern. Dazu gehört auch die Europäische Investitionsbank, die ein Darlehen von 200 Millionen Euro für medizinische Güter, Schulungen und weitere Maßnahmen für ein stärkeres Gesundheitssystem bereitstellt. Diese Hilfe bewahrte das fragile Gesundheitssystem Marokkos und die 9 200 im öffentlichen Sektor tätigen Ärztinnen und Ärzte vor der Überlastung.
Internationale Unterstützung
Marokko zählt mittlerweile zu den Ländern Afrikas, die besonders stark vom Coronavirus betroffen sind. Wie Anna Barone, Leiterin der EIB-Vertretung in Marokko, berichtet, hat die Pandemie eklatante Lücken im Gesundheitswesen des Landes aufgedeckt: unzureichende Krankenhausinfrastruktur, Mangel an geschultem medizinischen Personal und große Ungleichheiten in der Versorgung. Zu Beginn der Krise wies Marokko mit nur 1,1 Krankenhausbetten pro 1 000 Einwohner eine der schwächsten Bettenausstattungen der Region auf. Auch die öffentlichen Gesundheitsausgaben sind Anna Barone zufolge in Marokko mit rund 160 US-Dollar pro Person und Jahr in der Region sehr niedrig.
Zwar bleibt die mangelhafte Infrastruktur eine gewaltige Herausforderung, dennoch hat Marokko kurzfristig effektiv auf die Krise reagiert und dabei von der internationalen Gemeinschaft erfolgreich Gelder und Know-how beschafft. Das Land hat die Zahl der Intensivbetten mit nun 3 000 fast verdoppelt, und es hat Testzentren eingerichtet, zu denen täglich neue hinzukommen. Mit den Darlehen der EIB und anderer Geldgeber werden dringend benötigte medizinische Güter, Ausrüstung und Behandlungen finanziert.
Schwieriger ist es jedoch, das qualifizierte medizinische Personal zu finden, das zur Bekämpfung der Pandemie gebraucht wird. Besonders rar sind ausgebildete Kräfte in ländlichen Gebieten, die durch eine schwache Infrastruktur und natürliche Hindernisse wie Berge oder Wüsten benachteiligt sind. „Auch mit allem Geld der Welt können Sie wenig ausrichten, wenn Ihnen Personal für die Verteilung von Masken oder die Durchführung von Labortests fehlt“, sagt Dana Burduja, am Marokko-Projekt mitwirkende Gesundheitsökonomin der EIB.
Marokko weist mit einer Ärztedichte von 0,54 pro 1 000 Menschen nur rund ein Drittel der Versorgung des Nachbarlandes Tunesien auf. Ein Teil des EIB-Darlehens wird daher für immaterielle Investitionen wie die Ausbildung von Klinikern und Ärztinnen und die Schulung von medizinischem und administrativem Personal in Krankenhäusern eingesetzt.
Schon vor der Pandemie arbeitete die EIB mit Marokko zusammen, um die Krankenhausinfrastruktur zu modernisieren und auszuweiten. Mit einem Darlehen von 70 Millionen Euro fördert die Bank den Bau oder die Modernisierung von 16 Krankenhäusern im ganzen Land. Mit dem Geld werden auch neue Ausstattungen und modernste Technologien finanziert, die die Patientenversorgung und die Arbeitsbedingungen für das medizinische Personal verbessern.
Holpriger Weg zur flächendeckenden Versorgung
Marokko begann 2002 mit der Umsetzung von Plänen für eine flächendeckende Gesundheitsversorgung. Der Weg ist lang und steinig, führt aber doch zu greifbaren Ergebnissen. Die Lebenserwartung in Marokko ist hoch, und wichtige Indikatoren haben sich stetig verbessert. So sank die Kindersterblichkeit von 42 Todesfällen pro 1 000 Lebendgeburten im Jahr 2000 auf 20 Fälle im Jahr 2017.
Die jüngste Initiative zur Ausweitung der Gesundheitsversorgung besteht in einer Fünfjahresstrategie (2017–2021) mit folgenden Zielen: Verbesserung der Krankenhausressourcen, Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes auf Selbstständige und Freiberufler, Aufstockung des Personals im Gesundheitswesen und Standardisierung der Ausbildung von Medizinstudierenden in Marokko.
Die Regierung nimmt für die Umsetzung der Pläne viel Geld in die Hand. Der Oxford Business Group zufolge stiegen die staatlichen Gesundheitsausgaben im Jahr 2019 nominal um 10 Prozent, und die Gesamtinvestitionen in das Gesundheitswesen im öffentlichen und privaten Sektor um 40 Prozent.
Tatsächlich haben jedoch viele Menschen in Marokko noch immer keinen Zugang zur medizinischen Versorgung, insbesondere zur Primärversorgung. Das dritte Ziel für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen sieht einen flächendeckenden Zugang mindestens zur Grundversorgung vor. Dieser Zugang ist vielen Marokkanerinnen und Marokkanern jedoch verwehrt, weil sie in ländlichen Gebieten leben oder nicht dem staatlichen Krankenversicherungssystem RAMED angehören.
„Auch wenn arme und vulnerable Gruppen auf dem Papier das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung haben, gibt es noch gravierende strukturelle, personelle und qualitative Mängel“, betont Barone.
Jetzt oder nie
Die breite Welle der internationalen Unterstützung für Marokko in der Pandemie könne wichtige Impulse setzen, um die verbleibenden Baustellen anzugehen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern, so Barone. Und sie ergänzt: „Wir müssen die akute Krise jetzt für Reformen nutzen, die normalerweise viel mehr Zeit in Anspruch nehmen.“
Auch dabei kann die Europäische Investitionsbank eine wichtige Rolle spielen. Barone zufolge kann die Bank der EU zu einer besseren Zusammenarbeit im marokkanischen Gesundheitssystem beitragen, indem sie Know-how und technische Unterstützung bereitstellt. Und sie kann die Modernisierung und den Bau von Krankenhäusern fördern, insbesondere im ländlichen Raum.
Die Europäische Union und Marokko arbeiten an einer neuen Kooperationsagenda für den Zeitraum 2021–2027, die auch den Reformen neue Dynamik verleihen könnte. „Jetzt bietet sich die große Chance, die richtigen Prioritäten zu setzen, um die Wirtschaft des Landes anzukurbeln und die Gesellschaft zu unterstützen. Eine bessere Gesundheitsversorgung muss ein Eckpfeiler des Aufschwungs werden“, so Barone.