Unternehmen entwickelt eine smarte Steuerung für Rollstühle, die auf Kopfbewegungen reagiert und Menschen mit schwerer Muskelerkrankung mobiler und unabhängiger macht

Wenn Saskia Melches mit ihren leuchtend pinken Haaren und ihren stylishen Google Glasses im Elektrorollstuhl durch Ostfildern fährt, ist sie nicht zu übersehen.

Saskia leidet an GNE-Myopathie, einer seltenen fortschreitenden Muskelerkrankung. Elf Jahre lang hatte sie ihren Rollstuhl mit einem Joystick gesteuert. Aber dann fiel ihr das immer schwerer, vor allem wenn es kalt war, weil Arme und Hände schwächer wurden.

Doch sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht verlieren und suchte nach einer anderen Lösung. Sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.  In München hatte das Start-up Munevo ein intelligentes System zur Rollstuhlsteuerung – munevo DRIVE – entwickelt, das 2019 auf den Markt kam.

Claudiu Leverenz, der Erfinder, studierte Informationssysteme an der Technischen Universität München. In einer Arbeitsgruppe experimentierte er mit der Smart-Glass-Technologie, um herauszufinden, ob sich damit auch elektrische Rollstühle steuern ließen.

Nach seinem Abschluss verfolgte er die Idee weiter und gründete mit drei Partnern, darunter dem Ingenieur Konstantin Madaus, das Unternehmen munevo.

„Wir wollen Menschen helfen, die ihren Rollstuhl nur mit dem Kopf steuern können“, sagt Konstantin. „Manche können sogar das im Lauf der Zeit nicht mehr, etwa wenn sie an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt sind.“

Das Tor zur Freiheit

Die App der smarten Brille hat ein Menü, das sich mit leichten Dreh- und Nickbewegungen des Kopfes bedienen lässt. Beim Fahren bewegt sich der Rollstuhl in die Richtung, in die der Kopf geneigt wird. Saskia bestätigt, dass die Steuerung sehr intuitiv ist. Mit der App kann man auch die Sitzposition ändern. Das ist wichtig, um Druckgeschwüre durch zu langes Sitzen in einer Position zu vermeiden.

Als Hardware verwendet munevo derzeit Google Glasses. Die Apps gehören dem Unternehmen jedoch selbst. Obwohl Google den Verkauf der Headsets kürzlich eingestellt hat, verfügt munevo noch über einen Vorrat für einige Jahre. Auf längere Sicht will es eine eigene Smart Glass oder ein Wearable entwickeln. Mit optionalen Add-ons können weitere Geräte wie Roboterarme oder ein Smart Home gesteuert werden.

So können Menschen mit wenig oder keiner motorischen Kontrolle Rollläden, Lampen, Fernseher, Smartphones oder Computer ohne Hilfe bedienen – und sogar die Tür öffnen und alleine eine Runde im Park drehen. Und weil die smarte Brille cool und tech-affin aussieht, müssen die Trägerinnen und Träger kein auffälliges Gerät im Gesicht oder am Kinn tragen.

Kurzum: munevo DRIVE kann das Leben verändern. „Selbstbestimmt Dinge tun zu können, bedeutet alles“, sagt Konstantin. „Manche haben vor Freude geweint, wenn sie zum ersten Mal seit einem Jahr oder noch mehr alleine ihr Zimmer verlassen konnten. Ein Rollstuhlfahrer, Ralph, ist mit unserer Steuerung etwa tausend Kilometer gefahren – ganz alleine.“

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© @munevo

Konstantin Madaus, der Ingenieur hinter munevo DRIVE

2023 stand munevo im Finale des Wettbewerbs für Soziale Innovation der Europäischen Investitionsbank. Dort werden Start-ups ausgezeichnet, die eine positive soziale, ethische oder ökologische Wirkung erzielen.

Diese Anerkennung macht Konstantin Mut: „Sie zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und in Europa etwas Innovatives und Sinnvolles tun.“

munevo geht in die Welt

Nach dem Start in Deutschland hat munevo die smarte Brille auch in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien und zuletzt in den USA eingeführt, wo das Unternehmen großes Potenzial sieht.

Bisher haben rund 300 Menschen eine munevo DRIVE erhalten. Laut Konstantin gibt es keine Statistiken darüber, wie viele weitere Menschen von der Lösung profitieren könnten. Das Unternehmen schätzt jedoch, dass allein in Westeuropa mehr als 13 000 potenzielle Nutzerinnen und Nutzer mit ALS, Multipler Sklerose und hoher Querschnittslähmung leben.

Mit rund 8 500 Euro ohne Add-ons ist die Lösung sicherlich teuer. Der Preis dürfte jedoch mit zunehmender Verbreitung sinken. Dem Unternehmen ist es auch ein großes Anliegen, Versicherungsgesellschaften über die Vorteile für ihre Kunden aufzuklären.

munevo lernt bei der Produktentwicklung vom Input seiner Zielgruppe und hat selbst einige Mitarbeitende im Rollstuhl.

„Wir entwickeln unser Produkt direkt für sie: Es reicht nicht, sich nur vorzustellen, wie sie sich fühlen“, so Konstantin. Eine von ihnen ist Saskia, die im Unternehmen mitarbeiten wollte, weil sie nicht mehr auf die munevo DRIVE verzichten kann.

„Die Brille gibt mir Unabhängigkeit, Freiheit und Mobilität“, sagt sie. Seit eineinhalb Jahren arbeitet sie im Vertriebsinnendienst und kümmert sich um Sanitätshäuser, Interessenten, Versicherungen, Vereine und Nutzerinnen und Nutzer der munevo DRIVE.

Für die Zukunft will munevo die Produktpalette über die Kopfsteuerung hinaus erweitern. Im Gespräch sind ein Joystick und ein Eye-Tracking-Gerät für Menschen, die ihren Kopf nicht bewegen können.

Neben Rollstuhlfahrern könnte das Start-up die App auch für ältere Menschen anpassen, etwa mit Funktionen wie Sturzerkennung und Erinnerung an die Medikamenteneinnahme. Das Ziel ist immer dasselbe: Technik nutzen, um einige der schwächsten Menschen in unserer Gesellschaft zu stärken.