Für Vizepräsident Alexander Stubb zeigt das Feuer in Notre-Dame, wie viel leichter es ist, etwas zu zerstören, als gemeinsam etwas aufzubauen. Doch die Reaktionen auf den Brand wecken auch Hoffnung.
Zuerst auf der Website des International Centre for Defence and Security (ICDS) zur Lennart-Meri-Konferenz 2019 veröffentlicht.
„Der Glöckner von Notre-Dame“ ist ein epochaler Roman über das Leben von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. In ähnlicher Weise haben uns die überwältigenden Emotionen beim Anblick der brennenden Kathedrale von Notre-Dame daran erinnert, dass Europa mehr ist als eine Sammlung von Ländern und nationalen Symbolen. Wir sind Europäerinnen und Europäer: Frieden und Wohlstand unseres Kontinents müssen uns ebenso am Herzen liegen wie das großartige Wahrzeichen von Paris.
Oft heißt es, die Menschen in Europa identifizieren sich nicht mit „Europa“, sondern haben nur ihre Region oder ihr Land im Blick – was Populisten nur zu gerne aufgreifen. Nationalistische Politiker machen sich das Bedürfnis der Menschen nach Gruppenzugehörigkeit, erkennbar an gemeinsamen Symbolen wie Hymnen, Fahnen oder Fußballtrikots, zunutze. Populisten unterscheiden klar zwischen „wir“ und „die anderen“. Und scheitert etwas, sind natürlich „die anderen“ schuld. Seit einigen Jahren sind solche einfachen Lösungsangebote in Europa auf dem Vormarsch.
Vor der Europawahl im Mai wird es aus verschiedenen politischen Lagern Kritik an der Europäischen Union hageln – manchmal begründet, meist aber nicht. Deshalb ist es wichtig, dass sich auch diejenigen deutlich Gehör verschaffen, die mehr Europa wollen.
Europäische Identität
Die starken Emotionen nach dem Großbrand in Notre-Dame beweisen, dass wir viel mehr gemeinsam haben, als die Populisten uns glauben machen wollen. Zahllose Kommentare in den sozialen Medien haben es gezeigt. Die Menschen waren geschockt und zu Tränen gerührt – nicht nur in Frankreich, sondern überall. Diese Reaktion ist ein Zeugnis unserer gemeinsamen Kultur und Geschichte. Für die meisten von uns gehört Notre-Dame zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Paris. Die Brandkatastrophe bestätigt einmal mehr: Vieles wissen wir erst zu schätzen, wenn wir es nicht mehr haben. Zum Glück konnte der heldenhafte Einsatz Hunderter Feuerwehrleute verhindern, dass Notre-Dame bis auf die Grundmauern niederbrannte. Dabei ist uns aber auch bewusst geworden, was uns Europäerinnen und Europäern wirklich am Herzen liegt. Erst als der Verlust drohte, erkannten wir den Wert. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Kathedrale stellvertretend für vieles von „Europa“ steht, das wir für selbstverständlich halten: Frieden, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, Freizügigkeit, freiheitliche und demokratische Werte und unsere Rechte. Wenn diese Werte plötzlich gefährdet sind, wird uns bewusst, was sie uns bedeuten – genau wie unsere kulturellen Wahrzeichen. Denn zweifellos schätzen wir alle die europäischen Werte – über Ländergrenzen hinweg.
Das gleiche Phänomen zeigt sich bei Terroranschlägen und anderen Tragödien. Plötzlich wird uns klar: Es hätte uns treffen können. Wir könnten die Eltern der Opfer sein, über die die Medien berichten. In solchen Momenten fühlen wir uns Menschen verbunden, die auf den ersten Blick ganz anders sind als wir, Menschen, die normalerweise zu einer anderen Uhrzeit zu Mittag essen als wir und die sich zur Begrüßung gar dreimal auf die Wangen küssen, anstatt einmal, zweimal oder gar nicht.
Weichenstellung Europawahl
Aus all diesen Gründen ist die Wahl zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai für die Europäische Union so entscheidend. Die Konsensbildung dürfte schwieriger werden, wenn nach der Wahl mehr Extremisten und europafeindliche Politiker im Parlament sitzen. Wir hätten eine viel schwerfälligere EU. Und genau das ist es, was die Populisten wollen. Das europäische Projekt würde europaweit unter Druck geraten.
Der Brand in Notre-Dame ist ein Paradebeispiel dafür, dass es viel leichter ist, etwas zu zerstören, als gemeinsam etwas aufzubauen. Das Feuer hat Teile eines Monuments verwüstet, an dem fast 200 Jahre gebaut wurde. Der Wiederaufbau dessen, was innerhalb weniger Stunden niederbrannte, wird Jahre dauern. Auch die EU befindet sich noch in der Bauphase, könnte man sagen. Der Grundstein wurde schließlich erst vor gut 60 Jahren gelegt. Aber die Populisten schneiden in den Umfragen so gut ab, weil sich Menschen leichter dafür gewinnen lassen, etwas einzureißen, als sich auf unsere nächsten Turmspitzen zu einigen. Bestenfalls überlegen sie, wie man eine Mauer bauen kann. Und nun denken Sie an die Strebebögen, Wasserspeier und Rosettenfenster von Notre-Dame!
Aber ich bin Optimist und überzeugter Pro-Europäer. Ende der 1980er-Jahre konnte ich als Student in den Vereinigten Staaten aus der Ferne verfolgen, wie der Kalte Krieg zu Ende ging und Deutschland wieder zusammenwuchs. Diese Zeit hat meinen Lebensweg geprägt. Seit fast 30 Jahren versuche ich, als Wissenschaftler, Staatsdiener, Politiker und Manager die EU-Politik zu verstehen. Dabei habe ich festgestellt, dass die EU ein ständiges Krisenmanagement betreibt. Wir stehen immer wieder vor großen Problemen, finden aber auch immer wieder eine Lösung. Jetzt ist der Moment gekommen, in dem Europa eine Lösung anbieten kann.
Europa verbessern
Die Europäische Union ist nicht perfekt. Und sie wird es auch nie sein. Dennoch ist sie der erfolgreichste Versuch, Beziehungen zwischen Nationalstaaten dauerhaft zu regeln. Allerdings reiten wir viel zu sehr auf unseren Unterschieden herum. Die Wahl vom 23. bis 26. Mai wird zeigen, wie stark unser Wunsch nach Zusammenarbeit und nach europäischen Zielen und Werten ist. Die EU gründet auf der Achtung der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtstaatlichkeit. In unsicheren Zeiten erinnern uns diese Werte daran, warum wir uns zusammengeschlossen haben – nämlich um Frieden, Sicherheit und Recht ohne Binnengrenzen zu sichern, um Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt zu fördern, um die Umwelt zu schützen, um gegen Diskriminierung zu kämpfen und um den technologischen Fortschritt voranzutreiben.
Es ist immer gut, mit den greifbaren Dingen anzufangen, die wir gemeinsam erreichen können. Der Brand von Notre-Dame hat unser kollektives Bewusstsein geweckt, und die Menschen aller EU-Länder wollen natürlich gemeinsam dazu beitragen, der Kathedrale ihren früheren Glanz zurückzugeben, so wie es Präsident Macron auch schon versprochen hat. Die Europäische Investitionsbank wurde vor rund 60 Jahren gegründet, um „zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Binnenmarkts im Interesse der Union beizutragen“ und die Finanzierung von „Vorhaben von gemeinsamem Interesse für mehrere Mitgliedstaaten“ zu unterstützen. Wir haben nun gesehen, dass Monumente wie Notre-Dame für die Europäische Union von gemeinsamem Interesse sind, und dass wir alle mit anpacken müssen, wenn es notwendig ist. Bei dieser Gelegenheit sollten wir uns auch vergewissern, dass die anderen kulturellen Artefakte unserer gemeinsamen europäischen Identität gut geschützt sind.
Die konkreten Ergebnisse der Zusammenarbeit in Europa sind das, worum es an meinem Arbeitsplatz bei der Bank der EU geht. Wir helfen Unternehmen dabei, Innovationen hervorzubringen, zu expandieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Wir kurbeln in der gesamten EU Investitionen an und fördern öffentlich-private Partnerschaften. Kaum eine andere Institution der Welt trägt mit ihren Finanzierungen so viel zum Klimaschutz und zum Wirtschaftswachstum bei wie wir. Gleichzeitig achten wir darauf, dass jede Finanzierung den Menschen zugutekommt. Wir investieren in Bäckereien, Spielzeughersteller, die Wärmedämmung von Wohnhäusern, neue Medikamente, Krankenhäuser, öffentliche Busse, Straßenbeleuchtung, sauberes Wasser, Batterien für Elektroautos, Solarstrom und Windparks. Die Europäische Investitionsbank ist ein Beweis dafür, wie die Zusammenarbeit in Europa konkret dazu beiträgt, unser aller Leben zu verbessern.
Diese Art der Solidarität brauchen wir auch für die Zukunft des Euro, für den Binnenmarkt, nachhaltiges Wachstum und die Kreislaufwirtschaft. Wenn wir das in den nächsten Jahren schaffen, können wir später sagen: Damals haben wir das Fundament für eine wahre europäische Integration gelegt.