Der skandinavische Lebensmittelriese Fazer macht Süßstoff aus schlichten Haferschalen
Haferschalen werden in Finnland gern an Rentiere verfüttert. Aber selbst im hohen Norden gibt es nicht genügend Rentiere für all die Haferschalen, die in den Mühlen des Back- und Süßwarenherstellers Fazer anfallen. Deshalb geht der nordische Marktführer jetzt neue Wege und macht aus den Haferschalen einen Zuckerersatz für Süßigkeiten: Xylit.
Die Vorteile von Xylit als natürliche, gesündere Alternative zu Zucker wurden vor allem von Professor Kauko Mäkinen beschrieben. Er führte in den 1970er-Jahren mehrere Studien an der Universität Turku durch und gilt als der Vater des Süßstoffs. Mäkinen und sein Team wiesen in den sogenannten Turku-Zuckerstudien nach, dass Xylit in signifikanter Weise Zahnbeläge und Karies reduziert – im Vergleich zu normalem Zucker, der das Gegenteil bewirkt.
Auvo Kaikkonen, Experte für Biowissenschaften bei der Europäischen Investitionsbank, studierte damals an der medizinischen Hochschule in Turku und kann sich an die Studien noch gut erinnern. „Das war damals eine große Sache, wirklich revolutionär“, sagt er.
Später, als Kaikkonen zur Promotion in die Vereinigten Staaten ging, fand er Xylit schon in allen möglichen Produkten, vor allem in Kaugummis. „Dann passierte etwas Seltsames: Einige Wettbewerber streuten Gerüchte über mögliche gesundheitsschädliche Wirkungen, und die Produkte verschwanden fast über Nacht aus den Regalen“, erinnert er sich. „Es dauerte lange, bis die Behauptungen widerlegt waren und Xylit seinen schlechten Ruf abschütteln konnte.“
Der Markt für natürliche Süßstoffe boomt
Aber jetzt ist Xylit wieder da. Die Sorge über Fettleibigkeit, Diabetes und Herzerkrankungen wächst – und mit ihr der Markt für kalorienarme oder kalorienfreie hochintensive Süßstoffe. Bei fast 2,4 Milliarden US-Dollar lag sein Volumen im Jahr 2017. Der Markt umfasst künstliche und synthetische Süßungsmittel wie Aspartame und Saccharine, aber auch natürliche Süßstoffe, die aus der südamerikanischen Pflanze Stevia oder der asiatischen Mönchsfrucht gewonnen werden – und Xylit. Kaikkonen ist überzeugt, dass die Nachfrage nach natürlichen Süßstoffen wie Xylit in den kommenden Jahren rasant steigen wird. Er selbst liebt von Fazer besonders die salzigen Lakritzpastillen Salmiakki.
Bislang wird Xylit vor allem aus Zellstoff und Mais hergestellt. Fazer betreibt seit fast 50 Jahren Mühlen und produziert seit 2013 Hafermehl. Ursprünglich wurde daraus Brot gebacken, aber mittlerweile steigt Hafer zum neuen Superfood auf und wird auch für viele andere Produkte verwendet, erklärt Ulrika Romantschuk, Executive Vice-President für Kommunikation und Branding bei der Fazer-Gruppe. „Hafer ist so vielseitig verwendbar. Wir machen jetzt auch Eiscreme daraus und sogar einen Haferflockenblock, der als Käseersatz dient“, sagt Romantschuk. „Deshalb werden wir unsere Mahlkapazität für Hafer verdoppeln, um mit der Nachfrage Schritt zu halten.“
Ein Nebenprodukt beim Mahlen sind die Haferschalen: die Hülsen, in denen sich die Haferkörner verbergen. Haferschalen werden als Tierfutter verwendet, aber nur Pferde und Rentiere können sie verdauen. Deshalb wandert ein Großteil der Haferschalen derzeit als Brennstoff in die Energieerzeugung aus Biomasse.
Fazer hat nun ein innovatives Verfahren zur Herstellung von Xylit aus den Mahlabfällen entwickelt. Haferschalen sind reich an Xylose, aus der sich Xylit gewinnen lässt. Mit einem Kredit der Europäischen Investitionsbank über 40 Millionen Euro will das Unternehmen in den kommenden Jahren eine neue Produktionsanlage für Xylit bauen und weitere Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsvorhaben finanzieren.
Professor Mäkinen, der Vater des Süßstoffs, war beim Spatenstich für die neue Anlage dabei. Er ist begeistert, dass die Xylit-Herstellung nach Finnland zurückkehrt. Für ihn ist Xylit so finnisch wie der Komponist Jean Sibelius und die Sauna.
Mit dem neuartigen Verfahren wandelt sich Fazer vom Xylit-Importeur zum Lieferanten, erklärt EIB-Kreditbetreuer Lasse Tourunen (sein Lieblingsprodukt von Fazer: Milchschokolade Fazer Blue). Fazer wird nach eigener Einschätzung künftig 4 000 Tonnen Xylit aus rund 20 000 Tonnen Haferschalen pro Jahr produzieren können – weit mehr als das Unternehmen für seine eigenen Produkte braucht. Für Rudolph und die anderen Rentiere bleiben immer noch genügend Haferschalen übrig. Aber Fazer kann dann auch Xylit an andere Hersteller liefern – für Zahnpasta, Mundspülungen und sogar Hustensaft.
So finnisch wie der Weihnachtsmann
Fazer gehört mittlerweile zu Finnland wie – ja – Xylit und der Weihnachtsmann (und wohl auch Jean Sibelius und die Sauna). Seit Jahrzehnten gehören Tutti Frutti, Dumle und Geisha zu den Lieblingsmarken der Zuckerschnuten in den nordischen Ländern. Kein Weihnachtsfest ohne Leckereien von Fazer!
Trotzdem ruht sich das Unternehmen nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern bleibt innovativ. Fazer wächst heute vor allem bei Produkten für Kunden, die auf nachhaltigere und gesündere Nahrungsmittel umsteigen möchten. Zum traditionellen Sortiment an Süßwaren und Schokoladen kommen neue Backwaren und traditionelle Brotsorten hinzu, aber auch immer mehr Produkte auf Pflanzen- und Haferbasis.
Süßigkeiten, die gut für die Zähne sind. Ist das nicht ein Traum?
Dieses Jahr legen wir einfach ein bisschen Xylit auf den Weihnachtsteller.