Tunesien verwandelt vernachlässigte Gegenden in attraktive Stadtviertel
In der Stadt Raoued, nördlich von Tunis, säumen halbfertige Gebäude die unbefestigten Straßen. Nicht selten fehlt es an fließendem Wasser oder Strom. „Hierher fahren keine Taxis, und unsere Kinder können oft nicht zur Schule gehen“, klagt Abderrahmane Amamri, ein Einwohner von Raoud. „Im Winter ist alles voller Schlamm, und wir müssen Stiefel tragen. Wir sind nur zwei, drei Kilometer von der Stadt entfernt, aber wir haben nichts.“
Damit spricht Amamri ein großes Problem an, mit dem Tunis seit 1942 kämpft: Viele Viertel konnten mit der rasanten Urbanisierung nicht mithalten. Das Ergebnis: schlechte Hygienebedingungen und Verwahrlosung. Die tunesische Revolution von 2011 förderte tiefe soziale Ungleichheiten und fragmentierte Stadtlandschaften zutage. 2012 zählte Tunesien 1 400 solcher Viertel.
„Der Kontrast zwischen modernen Zentren und spontan entstandenen Vierteln zeigt, dass die Städte schlecht geplant sind“, sagt Gerry Muscat, bei der Europäischen Investitionsbank für Stadtentwicklung zuständig. „Tunesien steht vor einer doppelten Herausforderung: Es fehlt an menschenwürdigem und bezahlbarem Wohnraum, und die Urbanisierung verläuft völlig unkontrolliert.“
- Lesen Sie mehr über Getreidesilos für mehr Ernährungssicherheit in Tunesien
2012 lancierte die Agentur für Stadterneuerung das erste Programm zur Sanierung und Integration von Wohnvierteln, kurz PRIQH 1.
„Wir haben 155 Wohnviertel, 52 Einrichtungen wie Jugendzentren, Sportplätze und Kulturzentren sowie 19 Freizeitgebäude für mehr als 864 500 Menschen geschaffen“, erzählt Agentur-Chef Ahmed Ezzeddine.
Das Programm verbessert Basisdienste wie öffentliche Beleuchtung, Sanitär- und Stromversorgung und den Wohnbestand. Doch das ist nicht alles. Die neuen soziokulturellen Einrichtungen vermitteln auch ein Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit.
Vorteile für die Wirtschaft
Das 248 Millionen Euro schwere Programm wurde vom Staat, den Kommunen und anderen Geldgebern finanziert, darunter die Europäische Investitionsbank (70 Millionen Euro), die französische Entwicklungsagentur AFD (30 Millionen Euro) und die Europäische Union (Zuschuss von 61 Millionen Euro).
„Das war eine bahnbrechende Initiative von Team Europa für Tunesien und die Region“, betont Basma Zouari, Expertin für Stadtentwicklung bei der EIB.
Textilunternehmerin Christine Murmann profitierte indirekt von dem Programm. „Die bessere Infrastruktur macht uns vieles leichter, und durch die neuen öffentlichen Einrichtungen ist die Umgebung lebenswerter“, so Murmann. „Wir haben das Personal in unserem neuen Werk in Hamadi von 40 auf 120 Beschäftigte aufgestockt und in erster Linie Frauen aus der Region eingestellt. Die können ihre Kinder jetzt in nahegelegene Schulen schicken.“
Das Programm hat den Alltag massiv verändert. Die Gegend ist nun sicherer und besser zugänglich. „Jetzt sind die Straßen ausgebaut und gut beleuchtet, und die Stadt ist sehr sauber“, freut sich Hayat Hammouda aus Bouchamma.
- Lesen Sie, wie die EIB Marokko mit Millionen gegen die Wasserknappheithilft.
Ein Blick in die Zukunft
Nach den ermutigenden Erfahrungen mit dem ersten Sanierungsprogramm hat die Agentur für Stadterneuerung 2019 ein zweites Programm aufgelegt. Das PRIQH 2 erhält Finanzierungen von 184 Millionen Euro, davon 77 Millionen Euro von der AFD, 77 Millionen Euro von der EIB und 30 Millionen Euro von der EU in Form eines Zuschusses. Nach einigen coronabedingten Verzögerungen ist es nun auf einem guten Weg.
„Von dem zweiten Programm profitieren in Tunesien 160 Stadtviertel und rund 800 000 Menschen“, sagt Catherine Barberis. Sie leitet bei der EIB das Monitoring von Projekten in Nachbarländern. „Im Fokus stehen eine energieeffiziente Infrastruktur und eine stärkere Beteiligung der Menschen an der Planung und Gestaltung.“
- Lesen Sie mehr über Getreidesilos für mehr Ernährungssicherheit in Tunesien
Informationsvideo der tunesischen Agentur für Stadterneuerung über das Programm zur Sanierung und Integration von Wohnvierteln in französischer Sprache.