Zukunftsperspektive Betonstahl: wie das Mikrofinanzinstitut Enda Tamweel Kleinstunternehmerinnen und -unternehmern hilft, die kaum Zugang zum traditionellen Finanzsystem haben
Von Mélanie Mazier
Mit 28 Jahren entdeckte Raja Fehli die Baubranche für sich.
Frisch von der Uni kommend, wo sie Produktionsmanagement und internationalen Handel studiert hatte, entschied Fehli 2017, dass sie in ihrer Heimat Sidi Bouzid bleiben will. Weil Arbeitsplätze in der zentraltunesischen Region jedoch dünn gesät waren, nahm sie die Dinge selbst in die Hand: „Die Dinge“ war in ihrem Fall Betonstahl – ein Produkt, dass ihr im Bauwesen auf Schritt und Tritt begegnete.
Betonstahl ist aus Armierungen, Deckenschalungen und Trägern nicht wegzudenken. Die Unternehmen aus ihrer Region müssen dafür aber extra ins 300 Kilometer entfernte Tunis fahren. Das brachte sie auf eine Idee – sie würde ihren eigenen Betrieb für Betonstahl aufbauen. Seitdem setzt sie sich in dieser traditionellen Männerdomäne durch.
„Betonstahl ist eine Nische, in die sich bis dahin wenige Frauen vorgewagt hatten. Das hat für mich den Ausschlag gegeben“, erzählt Fehli.
Für ihr Vorhaben brauchte sie einen Kredit, konnte aber kaum Sicherheiten vorweisen. Die 10 000 Dinar (3 200 Euro) von ihrer Bank reichten nicht aus. Irgendwo musste noch mehr Geld herkommen.
Deswegen wandte sie sich an Enda Tamweel, ein Mikrofinanzinstitut, das in der Gegend gut bekannt ist. In den vergangenen 30 Jahren vergab Enda Tamweel mehr als drei Millionen Mikrokredite an fast 900 000 Menschen und stellte über 1,6 Milliarden Euro für die einheimische Wirtschaft bereit. Auch Raja Fehli hat bei Enda Tamweel die 3 000 Dinar (1 000 Euro) bekommen, die ihr noch fehlten, und ein Existenzgründerseminar als Starthilfe dazu. Damit konnte es losgehen.
Bedarfsgerechte Kredite mit großer Wirkung
Mikrofinanzinstitute wie Enda Tamweel richten sich an Menschen, die kaum Zugang zum traditionellen Finanzsystem haben. Sie leben oft in ländlichen oder benachteiligten Gegenden mit einer ausgeprägten informellen Wirtschaft, die in Tunesien immer noch 34 Prozent des BIP ausmacht. Um ihrer wachsenden und immer vielfältigeren Kundschaft maßgeschneiderte Leistungen anbieten zu können, brauchen Mikrofinanzinstitute allerdings Geld.
Die Europäische Investitionsbank (EIB) fördert Mikrofinanzinstitute, damit sie wachsen und expandieren können. Mit Hilfe der Bank können sie das Kleinstunternehmertum unterstützen und so zum sozialen Fortschritt und zur finanziellen Teilhabe beitragen. Davon profitieren vor allem junge Leute, Frauen und Menschen aus benachteiligten, ländlichen Gebieten, die es besonders schwer haben. Die EIB hat Enda Tamweel dafür ein Darlehen im Gegenwert von 8,5 Millionen Euro bereitgestellt.
Enda Tamweel hat den tunesischen Mikrokreditsektor geprägt und ist ein leuchtendes Beispiel für Nordafrika und den Nahen Osten.
Julia Assaad, die bei der EIB als Kreditreferentin an dem Darlehen für Enda Tamweel beteiligt war, weiß: Diese Art von Darlehen ist besonders in Ländern gefragt, in denen liquide Mitteln knapp sind. Genau das traf auch auf Tunesien zu, als der Finanzierungsvertrag unterzeichnet wurde. Sie ist überzeugt: „Enda Tamweel hat den tunesischen Mikrokreditsektor geprägt und ist ein leuchtendes Beispiel für Nordafrika und den Nahen Osten.“
Für mehr finanzielle Teilhabe
Die EIB ist seit fast 30 Jahren ein renommierter Partner von Mikrofinanzinstituten. Dank des Fonds der Resilienzinitiative (ERI-Fonds) und seiner Geber kann die EIB kleine und Kleinstunternehmen in der südlichen Nachbarschaft der Europäischen Union und im Westbalkan mit Krediten in Landeswährung unterstützen. Dabei baut sie auf ihren guten Erfahrungen auf, die sie mit dem FEMIP-Mandat in den Ländern der südlichen Nachbarschaft und mit dem Cotonou-Mandat in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean gemacht hat.
Die Initiative zur Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz soll nachhaltige Lösungen hervorbringen, die für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung sorgen und Länder gegen Schocks wappnen. Die EIB unterstützt schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen, indem sie ihnen den Zugang zu Krediten eröffnet und so ihre wirtschaftliche Resilienz stärkt. Mit dem ERI-Fonds will die Bank die Lebensverhältnisse der Menschen dauerhaft verbessern.
„Wir stellen nicht einfach ein langfristiges Darlehen in Landeswährung bereit, sondern helfen Enda Tamweel auch dabei, die Menschen zu erreichen, die es besonders schwer haben“, sagt Assaad.
Der Anspruch der EIB deckt sich mit der Mission von Enda Tamweel: 60 Prozent der 390 000 aktiven Kunden sind Frauen, 25 Prozent junge Menschen. Außerdem bietet Enda Tamweels Mehrheitseigner – die NGO Enda Inter-Arabe – nichtfinanzielle Unterstützung an, um eine nachhaltige und inklusive Entwicklung zu fördern und gesellschaftliche Ungleichheiten in Tunesien langfristig zu reduzieren.
Ihre Programme für das Empowerment und die Teilhabe von Frauen umfassen etwa Kurse, die über sozioökonomische Rechte informieren und Finanzwissen vermitteln.
Das Programm „Projekt des Lebens“ soll jungen, benachteiligten Menschen Selbstvertrauen geben und ihnen Zukunftsperspektiven aufzeigen. 65 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich schon aus der Arbeitslosigkeit befreien, und 60 Prozent arbeiten an eigenen Projekten.
„Wer Menschen zu finanzieller Selbständigkeit verhilft, gibt ihnen ihr Selbstvertrauen zurück – sie können die Dinge wieder selbst anpacken“, meint Mohamed Zmandar, Chef von Enda Tamweel.
Mit durchschnittlich 825 Euro fällt der einzelne Kredit bei Enda Tamweel eher klein aus, aber oft bleibt es nicht bei dem einen. Die besondere Stärke von Mikrofinanzinstituten liegt in der Nähe zur Kundschaft und in der vertrauensvollen Beziehung, die sich über die Jahre aufbaut. Das Institut wird zum langfristigen Wegbegleiter – in guten, aber auch in schlechten Tagen. „Unsere Kunden schätzen diese besondere Partnerschaft“, meint Mohamed Zmandar.
Mehr Reichweite durch Digitalisierung
Fünf mobile Filialen ermöglichen Enda Tamweel auch in den abelegensten Gebieten einen persönlichen Kontakt zu den Kunden. Das ist besonders wichtig, weil 40 Prozent der Kundschaft, darunter sehr viele Frauen, in ländlichen Regionen wohnen. Dieser Kundenkreis lebt überdurchschnittlich oft in prekären Verhältnissen und sucht eher eine Filiale auf.
Seit zwei Jahren setzt das Unternehmen auf digitale Lösungen. Das hat gleich zwei Vorteile:
Die Kundinnen und Kunden sparen kostbare Zeit für ihr Geschäft, weil sie für Rückzahlungen nicht den Weg in die Zweigstelle auf sich nehmen müssen.
Die Kundenerfahrung wird verbessert und personalisiert, wenn Kreditanträge online gestellt werden.
Diese Innovationen kommen vor allem der jungen Generation entgegen: Sie erwartet schnelle, flexible Dienstleistungen und nutzt Mobilgeräte ganz selbstverständlich.
Wegen Covid-19 musste der tunesische Staat die Tätigkeit in mehreren Branchen herunterfahren, teilweise sogar unterbrechen. Mithilfe digitaler Tools bleibt Enda mit seinen Kundinnen und Kunden in Kontakt und kann Kredite anbieten, die auf die neuen Bedürfnisse in der Pandemie abgestimmt sind. Dank des komplett digitalen Verfahrens können kleine und Kleinstunternehmen ihr Geschäft am Laufen halten. Es geht ums Überleben.
Mikrofinanzinstitute wie Enda wollen die Gründerkultur fördern und ihren Kundinnen und Kunden so zu mehr Autonomie verhelfen. Raja Fehli hat mittlerweile fünf Angestellte, davon vier Frauen, und ihr Unternehmen wächst. Gerade hat sie eine neue Gussmaschine für ihre Werkstatt angeschafft, und jetzt will sie noch mehr Leute einstellen, um die steigende Nachfrage zu bewältigen.
Heute sagt sie: „Für mich war das Ganze schon ein Risiko – aber ein kalkulierbares.“