Rede von EIB-Präsidentin Nadia Calviño beim 6. Kapitalmarktseminar, das gemeinsam mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und der Europäischen Kommission organisiert wurde


 

>@Vio Dudau/EIB

Guten Morgen meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben gerade ein schnelles und agiles Europa und den sehr guten Dialog mit der Regierung unseres Gastlandes Luxemburg gesehen. Ich freue mich sehr, heute mit meinen guten Freunden Gilles und Pierre den zweiten Tag des Kapitalmarktseminars zu eröffnen. Das Seminar hat sich meiner Meinung nach zu einem Flaggschiff-Event des Jahres entwickelt, einem der bedeutendsten, die hier stattfinden und von den europäischen Institutionen ausgerichtet werden. Besonders freut mich, dass ich persönlich in Kontakt kommen kann, mit vielen von Ihnen hier im Raum und mit allen, die uns online zuschauen, dem Kapitalmarktpublikum. Es wurde gesagt, und es stimmt, ich bin erst seit dem 1. Januar bei der Europäischen Investitionsbank. Und seitdem bemühe ich mich intensiv um den Dialog mit unseren Anteilseignern, den Mitgliedstaaten, und mit unseren wichtigsten Partnern und Stakeholdern.

Dabei bin ich viel unterwegs. 17 Mitgliedstaaten habe ich besucht, das heißt, die zweite Jahreshälfte führt mich in zehn weitere. Da sind Gespräche mit dem luxemburgischen Minister sehr viel einfacher, wir sehen uns recht häufig. Was ich von unseren Anteilseignern vernehme, sind vor allem zwei Botschaften.

Erstens: Die Europäische Investitionsbank-Gruppe sollte als Bank der EU eine zentrale Rolle übernehmen, um Europas Investitionslücke zu schließen und dafür zu sorgen, dass die grüne und digitale Wende zu einem europäischen Erfolg wird.

Die zweite Botschaft ist die beeindruckende Einigkeit bei den Prioritäten. Alle Mitgliedstaaten, alle Finanzministerinnen und -minister machen dieselben Schlüsselprobleme aus, die die Top-Prioritäten für Europa und damit auch für die EIB sind. Als Präsidentin der Bank ist es mein Ziel, das volle Potenzial dieser Institution auszuschöpfen, um die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen dabei zu unterstützen, unsere Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger und das Leben der Menschen in Europa besser zu machen.

Das bedeutet: Wachstum und sozialen und territorialen Zusammenhalt stärken, Europa in seiner Führungsrolle bei der grünen und digitalen Wende unterstützen und die Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, strategische Autonomie und wirtschaftliche Sicherheit in Europa ausbauen. International heißt das: weiter eine Kraft des Guten in der Welt sein, Partnerschaften aufbauen, den Nord-Süd-Dialog stärken und unsere Investitionen strategisch so ausrichten, dass wir unsere zentralen Werte und Prioritäten verteidigen. Gestern war ich im Vatikan, wie ich gerade Pierre und Gilles erzählt habe. Dort habe ich mit dem Papst gesprochen und an einem sehr intensiven und interessanten Austausch mit wichtigen Akteuren im Bereich Staatsverschuldung teilgenommen, um eine Lösung für die Schuldenlast der vulnerabelsten Länder der Welt zu finden. Und aus diesen Prioritäten und Zielen ergeben sich acht Handlungsschwerpunkte.

Erstens: Mehr als 50 Prozent unserer Investitionen entfallen auf die grüne Wende. Damit haben wir, wie ich glaube, unsere Position als die Klimabank sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU gefestigt.

Das ist kein nettes Extra für die Zukunft – gerade, wenn man an die jüngste Generation denkt –, sondern das hat jetzt und hier oberste Priorität für Europa, wie wir durch den Krieg schmerzhaft erfahren mussten. Wir können nicht weiterhin von Öl- und Gasproduzenten in aller Welt abhängig bleiben. Wir müssen autonom werden. Wir müssen unsere Resilienz im Energiebereich stärken und damit die grüne Wende voranbringen – das hat für uns alle jetzt Vorrang. Und ich bin mir recht sicher, dass die EIB-Gruppe neben ihren massiven Investitionen in Netze, Interkonnektoren, Speicherkapazität usw. bereits die Technologie finanziert, die uns den Durchbruch zu einer bezahlbaren und effizienten grünen Wende bringen wird, die im Kampf gegen den Klimawandel den Unterschied machen wird. Außerdem arbeiten wir am Ausbau bestehender Technologien, damit die grüne Wende zu einem europäischen Erfolg wird, wie ich bereits gesagt habe. Ich bin mir deshalb recht sicher, weil ich rückblickend sehe, dass die EIB an der Finanzierung der entscheidenden Durchbrüche maßgeblichen Anteil hatte. Zuletzt haben wir mit BioNTech das Unternehmen finanziert, das damals den Covid-19-Impfstoff entwickelt hat, die mRNA-Technologie.

Ich denke daher, dass unsere Institution einen sehr guten Instinkt hat und wir technisch so kompetent sind, dass wir erkennen, welche wegweisenden Technologien wir fördern sollten, um Europa nach vorne zu bringen.

Deshalb lautet unsere zweite Priorität auch: technische Innovation und Digitalisierung beschleunigen. Das bedeutet, dass wir entlang der gesamten Wertschöpfungskette investieren, darunter auch in kritische Rohstoffe, die grundlegend für die Entwicklung der neuen Technologien sind.

Drittens: Nach dem Auftrag durch die europäische Politik verstärkt die EIB-Gruppe ihre Unterstützung für die europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, wobei wir natürlich immer die Finanzierungskapazität der Gruppe und die hohen Umwelt-, Sozial- und Governance-Standards im Blick haben. Derzeit setzen wir einen Aktionsplan für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie um, mit dem wir Frieden und Sicherheit in Europa und weltweit fördern wollen. Dem Plan ging ein sehr intensiver Austausch mit wichtigen Stakeholdern und den Finanzmärkten voraus, um unsere Maßnahmen exakt auszurichten. Hier muss ich mich bei den Teams unter der Leitung von Cyril Rousseau bedanken. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet und sichergestellt, dass wir unsere Unterstützung für die europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie ausbauen konnten und gleichzeitig unsere sehr starke Finanzierungskapazität wahren.

Unsere vierte Priorität ist unser Beitrag zu einer modernen Kohäsionspolitik. Das sieht unsere Satzung vor. Rund 45 Prozent unserer Investitionen entfallen auf weniger entwickelte Regionen, und ich halte es für ganz wesentlich, dass wir uns um diese Regionen kümmern. Denn jede Investition passiert an einem Ort, und wir müssen dafür sorgen, dass alle Menschen in Europa Zugang zu den Chancen der neuen grünen und digitalen Wirtschaft haben.

Unsere fünfte Priorität ist eine stärkere Unterstützung für Landwirtschaft und Bioökonomie und die Entwicklung innovativer Instrumente auch in diesem Bereich.

Sechste Priorität: soziale Infrastruktur. Das bedeutet nachhaltiger und bezahlbarer Wohnraum – eine Top-Priorität, wie ich weiß, für den Finanzminister Luxemburgs, wie auch für die Finanzministerinnen und -minister in der ganzen EU, denn dies ist eine der Herausforderungen, die wir auf unserem Kontinent gemeinsam haben. Das bedeutet außerdem Investitionen in Bildung und Gesundheit. Diese sozialen Infrastrukturen sind das Herzstück unserer Gesellschaften und das Herzstück der europäischen Lebensweise.

Bei der siebten Priorität geht es darum, unsere Arbeit außerhalb der EU auf Wirkung auszurichten. Gegenwärtig gilt unser Hauptaugenmerk natürlich der Ukraine und ihrer Unterstützung. Nächste Woche nehme ich an der Konferenz in Berlin teil, und ich hoffe, dass wir bereits eine Reihe von Vereinbarungen mit Premierminister Schmyhal oder Minister Marchenko unterzeichnen können, um die Ukraine weiter zu unterstützen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Investitionen in große nationale Infrastrukturen – Energie und Verkehr –, lokale Infrastrukturen – Schulen, Krankenhäuser und Wiederaufbau von kriegszerstörtem Wohnraum –, drittens auf der Unterstützung des Privatsektors, vor allem der ukrainischen KMU, und schließlich auf technischer Hilfe, ohne die im Land kein Kapazitätsaufbau möglich ist. Neben unseren Prioritäten Ukraine, Erweiterung und Nachbarschaft werden natürlich Afrika und die Prioritäten der Global-Gateway-Strategie der EU für den Rest der Welt die Richtung für unsere Investitionen außerhalb der EU vorgeben. 

Und zu guter Letzt – Sie haben alle schon darauf gewartet – wollen wir in der Kapitalmarktunion vorweggehen. Ich glaube, in diesem Forum muss ich nicht erklären, warum die EIB – allein durch ihre Existenz – ein Projekt der Kapitalmarktunion ist.

Wir mobilisieren die internationalen Kapitalmärkte mit unserer europäischen Handschrift, um Projekte in allen Mitgliedstaaten zu ermöglichen – über die Grenzen eines fragmentierten nationalen Markts und die Kapazitäten nationaler Geschäftsbanken hinaus – und schlagen damit eine Brücke zwischen den Kapitalmärkten und der Realwirtschaft. Und ich glaube, die EIB ist bisher ein außergewöhnlich erfolgreiches Investment der europäischen Mitgliedstaaten.

Jetzt konzentrieren wir uns auf vier Arbeitsbereiche, um den Weg für eine tiefere, breitere Kapitalmarktunion zu bereiten. Erstens: mehr Eigenkapitalinvestitionen. Letztes Jahr riefen wir die European Tech Champions Initiative ins Leben, einen innovativen Dachfonds, der öffentliche Mittel der EIB und einiger Mitgliedstaaten in große Risikokapitalfonds lenkt. Ziel ist es, unsere Innovatoren, Gründerinnen und Gründer bei ihrem Wachstum zu unterstützen, wenn erhebliche Kapitalsummen benötigt werden, und ihre Abhängigkeit von ausländischem Kapital zu verringern. Damit sind wir so erfolgreich, dass die Euro-Gruppe uns gebeten hat, darauf aufzubauen. Deshalb prüfen wir weitere Möglichkeiten für öffentlich-private Investitionsstrukturen, die das Wachstum europäischer Scale-ups stärken und das Exit-Umfeld verbessern könnten, damit unsere erfolgreichen Start- und Scale-ups europäisch bleiben. Mit öffentlichen Geldern allein schaffen wir das nicht. Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Kapazitäten optimal nutzen und private Investitionen mobilisieren. Die European Tech Champions Initiative beteiligt sich bereits an drei Fonds und investiert im Umfang von 600 Millionen Euro in Tech-Scale-ups. Hinzu kommen weitere Fonds, die sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Genehmigung befinden. Ich werde hier keine Namen nennen, aber ich glaube, Sie alle wissen, welche Fonds wir bereits finanzieren und welche in der Pipeline sind. Wir konzentrieren uns insbesondere auf die Bereiche Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Life Sciences, also Bereiche, in denen Europa sicherlich zulegen kann und sollte. Bisher wurden 14 Unternehmen in fünf Mitgliedstaaten von der European Tech Champions Initiative unterstützt: in Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien und den Niederlanden. Wir sehen also, wie wir durch unsere Instrumente, mit denen wir öffentliches und privates Kapital mobilisieren, zu einer tieferen, breiteren europäischen Kapitalmarktunion beitragen und das Wachstum erfolgreicher europäischer Scale-ups fördern können.

Zweiter Arbeitsbereich: Die EIB-Gruppe wird auf ihrer langjährigen Führungsrolle bei grünen Finanzierungen aufbauen – ein Punkt, den auch der Minister angesprochen hat. Schließlich haben wir 2007 als erste eine grüne Anleihe begeben und seitdem Klimaschutzanleihen und Nachhaltigkeitsanleihen im Wert von 93 Milliarden Euro in 23 Währungen emittiert. Damit sind wir die größte multilaterale Entwicklungsinstitution, die Use-of-Proceeds-, grüne und Nachhaltigkeitsanleihen ausgibt. Wir passen unsere Methodik an den neuen Rahmen der EU-Taxonomie und den künftigen EU-Standard für grüne Anleihen an. Meiner Meinung nach bilden standardisierte Informationen eine Grundvoraussetzung für fairen Wettbewerb. Wir müssen Greenwashing vermeiden. Wir wollen Anleihen allerhöchster Qualität, und das sollte uns auch für Alternativen, die qualitativ möglicherweise weniger hochwertig sind, ein effizientes Pricing ermöglichen. Das wäre aus meiner Sicht auch ein sehr wichtiges Gebiet, auf dem Pionierarbeit geleistet werden muss, um die europäischen Kapitalmärkte zu stärken. Neben unseren Emissionen bieten wir unseren Kunden natürlich auch technische Hilfe, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU. Darüber hinaus haben wir ein Ankaufprogramm für grüne Anleihen entwickelt, was ich ebenfalls für einen erfolgversprechenden Weg halte. Über diesen Bereich grüner Anleihen wurde gestern gesprochen, als es auch um den Rest der Welt und die Unterstützung für die vulnerabelsten Länder ging, die am direktesten vom Klimawandel betroffen sind. Wir möchten Sie alle als Marktteilnehmende daran beteiligen, das Potenzial des Markts für grüne Anleihen in Europa zu erkennen und weiterzuentwickeln.

Drittens: Hiermit im Zusammenhang stehen grüne Asset-Backed Securities. Auch sie könnten zur Finanzierung nachhaltiger Projekte beitragen und zu einem attraktiven neuen Asset für Investoren, für Sparerinnen und Sparer im ganzen EU-Ökosystem werden. Eine gesamteuropäische Plattform würde die Einstiegshürden für kleinere Banken möglicherweise senken. Denkbar wäre auch, eine effiziente Beratung auf die Beine zu stellen, um Emissionen zu standardisieren und Innovation zu pushen und so Best Practices bei grünen Finanzierungen in der EU zu fördern und natürlich die massive Lücke zwischen dem Bedarf und der Verfügbarkeit grüner Finanzierungen zu schließen.

Ein vierter und letzter Bereich, der unserer Meinung nach lohnenswert ist und Potenzial verspricht, sind digitale und Blockchain-Technologien, um die Integration der EU-Kapitalmärkte zu beschleunigen. Die EIB-Gruppe ist ein Vorreiter auf dem Markt für digitale Anleihen. Wir haben zwischen 2021 und 2023 vier digitale Anleihen aufgelegt und dabei verschiedene Technologien, finanztechnische Merkmale und rechtliche Rahmenbedingungen getestet, und wir glauben, dass die laufende Arbeit mit europäischen Notenbanken, der Europäischen Zentralbank, den Notenbanken des Euroraums und natürlich dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, dem ESM, hilfreich ist, um zu sehen, wo künftig das Potenzial dieses digitalen Euro liegt.

Lassen Sie mich mit einer allgemeineren Bemerkung schließen. Sie haben unsere acht Top-Prioritäten gehört. Sie sehen, wie die verschiedenen europäischen Institutionen gemeinsam weiter daran arbeiten, Europa zu einem Raum des Friedens und auch des Wohlstands und der Innovation zu machen, der Vorreiter bei der weltweiten technischen Revolution ist.

Ich musste an die Worte von Jacques Delors in Bezug auf den Binnenmarkt denken. Er sprach von einem Europa auf der Grundlage von „Wettbewerb, der stimuliert, Zusammenarbeit, die stärkt, und Solidarität, die vereint“. Mit Blick auf die Wahl in dieser Woche sollten wir uns an diese Ideen erinnern, denn sie bilden den Kern unseres täglichen Handelns in den europäischen Institutionen. In einem so komplexen geopolitischen Kontext glaube ich, dass wir als Europäerinnen und Europäer vereint sein müssen und dass wir uns täglich vor Augen führen müssen, welchen Wert Europa für uns bringt. Die EIB-Gruppe ist ein mächtiges Instrument, um europäische Lösungen durchzusetzen, zu Hause und weltweit. Denn wir lassen europäisches Kapital arbeiten, Finanz- und Humankapital, all unser Talent, unsere Intelligenz und Fähigkeiten – und das in der ganzen EU.

Wir lassen dieses Kapital arbeiten, und ich glaube, damit werden wir den Erwartungen der Menschen und Unternehmen in Europa gerecht. Das ist unser jetziges Ziel mit der Kapitalmarktunion, und das ist eigentlich die Grundlage für alles andere, was wir tun. Lassen Sie mich mit dieser Idee schließen. Ich wünsche Ihnen einen sehr produktiven Tag und bedanke mich bei Ihnen.