EIB-Präsidentin Nadia Calviño sprach an der Universität Porto zum 70-jährigen Bestehen der Wirtschaftsfakultät vor Studierenden und Lehrkräften. Calviño lobte das Engagement der Universität für ein erfolgreiches Europa.


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Meine sehr geschätzte Kommissarin, querida Elisa, liebe Freundinnen und Freunde,

meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr, dass ich heute hier mit Ihnen an der Universität Porto einen besonderen Meilenstein feiern darf: das 70-jährige Bestehen Ihrer Fakultät. Herzlichen Glückwunsch!

Als Präsidentin der Europäischen Investitionsbank weiß ich um die Bedeutung dieser Universität und die Rolle, die diese renommierte Einrichtung in Portugal und Europa spielt. Bei der EIB haben wir viele Kolleginnen und Kollegen, die hier an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät studiert haben, von Kreditreferenten bis hin zu Volkswirtinnen, die Projekte prüfen und überwachen.

Deshalb ist es mir eine ganz besondere Freude, heute hier zu sein, und ich möchte Ihnen ein paar persönliche Gedanken zu einem der wichtigsten, wohl dem wichtigsten Thema mitteilen, das mich gerade beschäftigt: die Lage der Welt und die Macht von wirtschaftlichen Ideen, sie zu verbessern.

Erst vor wenigen Wochen fand in Washington DC die Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank statt. Mein Fazit nach dieser sehr intensiven Woche:

  • Wirtschaftlich läuft es besser, geopolitisch schlechter als erwartet.
  • Gott sei Dank wurden vor vielen Jahrzehnten die Bretton-Woods-Institutionen gegründet. Denn das multilaterale Wirtschafts- und Finanznetzwerk funktioniert gut und ist gegenwärtig wohl das einzige Forum, in dem Führungsspitzen miteinander sprechen und konstruktive Lösungen für aktuelle Probleme finden können.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Weltordnung, mit der wir sehr gut gefahren sind, war das Ergebnis wirtschaftlicher Ideen.

Keynes und Roosevelt hatten die Weltwirtschaftskrise erlebt und wussten nur zu gut, wie Armut und soziale Zerrüttung zu Konflikten und Krieg führen können. Außerdem hatten sie gesehen, was öffentliche Investitionen und der New Deal in den USA bewirkten: Diese Maßnahmen gaben den Menschen Arbeit und ihre Würde zurück und trugen zu Wohlstand und politischer Stabilität bei.

Die Lektionen aus den 1920er- und 1930er-Jahren führten zum Marshallplan für Europa, zu Freihandelsabkommen und zur Gründung der Bretton-Woods-Institutionen. Ziel war es, weltweit finanzielle Stabilität zu gewährleisten und Zahlungsbilanzkrisen zu verhindern.

Das System von damals hat sich in den vergangenen Jahrzehnten natürlich weiterentwickelt. Als Folge der Finanzkrise von 2008 haben sich zum Beispiel die G20 zu einem wichtigen Forum für koordinierte Reaktionen auf globale Herausforderungen entwickelt.

Doch jetzt ist diese Weltordnung in Gefahr.

Die tektonischen Platten, die die Grundlage für wirtschaftlichen Fortschritt, Handelsglobalisierung und kooperative Lösungen waren, verschieben sich – und das verursacht Kollisionen und Risse.

Eine neue Weltordnung entsteht, und die Basis für Europas Erfolg steht vor einer Bewährungsprobe. Mit den Entscheidungen, die wir heute treffen, bestimmen wir, welche Rolle die EU künftig spielt – in dieser schönen neuen Welt, die gerade entsteht.

Und mit der EU sind wir auch schon beim zweiten Beispiel für die weltgestaltende Macht wirtschaftlicher Ideen. Unsere Union, das erfolgreichste Experiment eines supranationalen Zusammenschlusses der jüngeren Geschichte, ist aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstanden.

Und sie begann als Zollunion mit ein paar gemeinsamen Regeln in Schlüsselbereichen, um einen weiteren Krieg in Europa zu verhindern: bei Kohle und Stahl als Rohstoff für Waffen, bei Atomkraft und in der Landwirtschaft als Nahrungslieferant für Bevölkerung und Militär.

Wie wichtig diese Bereiche sind, führt uns der Krieg an der Ostgrenze der EU jetzt gerade wieder schmerzlich vor Augen.

Zum Glück wussten jene klugen Köpfe damals auch, dass Investitionen in den wirtschaftlichen Fortschritt finanziert werden müssen. Deshalb gründeten sie 1958 mit den Römischen Verträgen die Europäische Investitionsbank als Finanzierungseinrichtung der neuen Union.

70 Jahre später besteht kein Zweifel daran, dass diese Entscheidungen richtig waren.

Mit 22 Milliarden Euro eingezahltem Kapital hat die Europäische Investitionsbank-Gruppe 5 Billionen Euro an Investitionen mobilisiert. Wir in Europa haben eines der größten multilateralen Finanzinstitute der Welt – mit 600 Milliarden Euro Bilanzsumme, einem starken AAA-Rating und einem soliden Portfolio, das sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Grenzen eine enorme Wirkung entfaltet.

Portugal zeigt eindrucksvoll, was es bringt, EU-Mitglied zu sein. Kurz nach der Nelkenrevolution, mit der Portugal die Demokratie zurückeroberte – kaum zu glauben, dass wir hier gerade das 50-jährige Jubiläum gefeiert haben – wurde die EIB ein Partner des Landes, und mit dieser Zusammenarbeit setzte in Portugal ein tiefgreifender Wandel ein.

Seitdem hat die EIB wichtige Vorzeigeprojekte finanziert, unter anderem die Vasco-da-Gama-Brücke, den ersten Offshore-Windpark, Straßen, Häfen, Flughäfen, Krankenhäuser, Museen, Schulen und Universitäten.

In meinen zwei Tagen hier in Portugal habe ich den beeindruckenden Hafen von Leixões besichtigt und auch mit Bürgermeistern und Ministern über die Finanzierung wichtiger Projekte gesprochen: den Hochgeschwindigkeitszug von Lissabon nach Porto, den Fluttunnel in Lissabon und wie sich die Lissaboner Einhornfabrik vergrößern lässt, die Portugals Erfolg als Start-up-Nation widerspiegelt.

Übrigens: Wussten Sie, dass die Europäische Investitionsbank-Gruppe fünf der sieben portugiesischen Einhörner finanziert hat?

2023 war Portugal erneut einer der zehn Hauptempfänger von Finanzierungen der EIB-Gruppe: Mehr als zwei Milliarden Euro haben wir dort investiert. Das ist fast ein Prozent des portugiesischen Bruttoinlandsprodukts.

Ich denke, darauf können wir stolz sein und wir können selbstbewusst darauf vertrauen, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen, wenn es darauf ankommt.

Wie vor 100 Jahren stellte uns die Finanzkrise von 2008 auf die Probe. Die vorherrschenden wirtschaftlichen Ideen führten zu einem Sparkurs, der vielen Ländern – auch Portugal – ein verlorenes Jahrzehnt brachte, ohne öffentliche Investitionen und mit einer Verschlechterung der physischen und sozialen Infrastruktur.

In diesen schwierigen Jahren war die EIB wohl die wichtigste Finanzierungsquelle für Portugals Wirtschaft.

Glücklicherweise haben wir aus der Finanzkrise von 2008 gelernt. Deshalb war die Reaktion 2020 nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie auch eine ganz andere: Diesmal war sie geprägt von Einheit, Entschlossenheit und Solidarität.

Die Europäische Zentralbank stellte Liquidität bereit, um unser Finanzsystem zu schützen.

Die Europäische Kommission ermöglichte uns über den SURE-Mechanismus, EU-weit Arbeitsplätze zu sichern.

Die Europäische Investitionsbank ergänzte mit dem Europäischen Garantiefonds nationale Garantiesysteme, um kleine und mittlere Unternehmen und das wirtschaftliche Ökosystem zu schützen.

Und natürlich bietet das Aufbauinstrument NextGenerationEU ein massives Reform- und Investitionsprogramm mit der Aufbau- und Resilienzfazilität, die jetzt die Grundlage bildet für die starke Erholung, das starke Wachstum und transformative Investitionen in die grüne und digitale Wende und einen besseren Wiederaufbau.

Portugal ist eine Erfolgsgeschichte.

Die EU ist eine Erfolgsgeschichte. Sie ist unsere beste Chance, in der gerade entstehenden neuen Weltordnung weiterhin eine starke Stimme zu haben.

Wirtschaftliche Ideen sind unerlässlich, wenn wir unseren erfolgreichen Kurs fortsetzen wollen.

Nach allem, was wir durchgemacht haben, mit der Pandemie, dem Krieg und der Inflation, können wir zu Recht stolz sein.

Europa hat effizient und wirksam auf diese Herausforderungen reagiert und dabei drei Prinzipien beherzigt: Einheit, Entschlossenheit und Solidarität.

Gemeinsam sind wir stärker, und es ist extrem wichtig, dass wir auch in Zukunft auf diesen Prinzipien aufbauen. Und auf unseren gemeinsamen Werten.

Europa steht für Frieden, Wohlstand, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten, und das muss auch so bleiben. Gerade jetzt, wo es so viele Spannungen gibt und Krieg und Konflikte die Sprache beherrschen, müssen wir eine Kraft für das Gute in der Welt bleiben, den Nord-Süd-Dialog fördern und dafür sorgen, dass sich unsere Kernprioritäten und Werte in unseren Investitionen widerspiegeln.

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Anmerkungen zur Rolle der Wirtschaftswissenschaften machen. Dabei spreche ich vor allem die Lehrkräfte an, aber auch die Studierenden, die uns zusehen.

Die Wirtschaftswissenschaften haben sich mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit weiterentwickelt. Sie sind ein lebender Fachbereich.

Als ich angefangen habe, ging es vor allem um Deregulierung, die Verschlankung des öffentlichen Sektors, quantitative Modelle, Geldpolitik und Finanzen.

Später hat die Idee eines nachhaltigen und gerechten Wachstums in der Politik stark an Bedeutung gewonnen. Seit der Pandemie spielt der öffentliche Sektor wieder eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, in einer sich schnell wandelnden und immer komplexeren Welt Wachstum, Sicherheit, Wohlstand, Stabilität und strategische Autonomie zu gewährleisten.

Die Forschung entwickelt reale Experimente, die Verhaltensökonomik, die Genderökonomie. All diese neuen Ideen haben unser Denken erweitert und helfen der Politik, in dieser neuen Welt die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Und ich bin ziemlich sicher, dass künstliche Intelligenz unser Interesse in Zukunft noch auf ganz andere Bereiche lenken wird. Vielleicht ist die künftige Nobelpreis-Gewinnerin heute unter uns oder im Fachbereich IT Engineering nebenan.

Aber zwei Grundsätze sollten wir immer im Auge behalten:

Erstens: Wir aus den Wirtschaftswissenschaften sollten bescheiden bleiben, denn unsere Disziplin muss von anderen Fachbereichen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten. Klassische Partner sind Soziologie, Politik, Psychologie, Geografie und Ähnliche, aber es gibt auch neue Partner, mit denen wir enger zusammenarbeiten müssen, etwa Medizin (Stichwort: Pandemie), Biologie, Ingenieurwesen und Mathematik.

Multidisziplinäres Arbeiten ist entscheidend. Meiner Erfahrung nach ist Diversität heute unverzichtbar – in Managementteams, bei Ideen und um sich gegenseitig voranzubringen. Diversität ist das beste Erfolgsrezept.

Zweitens: Neben Bescheidenheit zählt Ehrgeiz!

Wir können stolz auf unsere Geschichte sein, wir können auf Europas Stärken aufbauen, wir sind eine Handelsmacht, eine Technologiemacht, eine Universitätskultur und eine Wissensmacht. Und: Bei uns lebt es sich am besten!

Deshalb kann ich Studierenden nur sagen: Sie haben ungeahnte Möglichkeiten in Ihrem Leben; wir können Ihre Projekte und Träume Wirklichkeit werden lassen. Sie werden reichlich Gelegenheit haben, wirklich etwas zu bewegen und die Welt von morgen zu gestalten.

Ich denke immer an ein berühmtes Zitat von Tomaso Padoa-Schioppa, ein großer europäischer Volkswirt und Vater des Euro. Ein Journalist fragte ihn: „Herr Padoa-Schioppa, wollen Sie die Welt verstehen oder verändern?“ Er antwortete: „Beides. Deshalb bin ich Volkswirt.“

An die Adresse der Universität und des Fachbereichs sage ich jetzt: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Ausbildung von Europas Spitzenkräften in den nächsten 70 Jahren.

Und an Sie, liebe Studierenden und Young Professionals: „Lernen und beobachten Sie, hören Sie zu und denken Sie nach ... und verändern Sie die Welt!“

Danke, dass ich bei dieser Feier dabei sein darf.

Und nochmal alles Gute zum 70.!