Eine österreichische Biotech-Firma entwickelt Zelltherapien gegen Inkontinenz. Das könnte Millionen Betroffenen helfen, wieder ein aktives Leben zu führen
Stellen Sie sich vor, Sie müssen dringend zur Toilette, schaffen es aber nicht rechtzeitig. Höchst unangenehm, und doch ein Problem für viele Menschen. Allein in Europa leiden rund 20 Millionen Menschen an Stuhlinkontinenz. Blaseninkontinenz ist sogar noch häufiger.
Die österreichische Biotech-Firma Innovacell arbeitet nun an Zelltherapien, die das Problem lösen könnten. Dabei werden patienteneigene Muskelvorläuferzellen in den verletzten oder geschwächten Schließmuskel injiziert, damit er sich regeneriert und wieder normal funktioniert.
Im Dezember 2021 erhielt Innovacell 15 Millionen Euro als Venture Loan von der Europäischen Investitionsbank. Damit kann das Unternehmen seine klinischen Studien in der letzten Phase zügig vorantreiben und die Konkurrenz auf Abstand halten, nachdem die Pandemie die Entwicklung verzögerte.
„Es gibt ein US-Unternehmen, das an einer vergleichbaren Therapie arbeitet. Die sind in der Entwicklung mindestens fünf Jahre hinter uns“, sagt Ekkehart Steinhuber, der Vorstandsvorsitzende von Innovacell. „Das Darlehen war wichtig, weil es den Investoren signalisiert hat, dass wir auf absehbare Zeit genug Geld haben.“
Hoffnung auf eine bessere Lebensqualität
Mit Inkontinenz haben vor allem Ältere zu kämpfen. Sie ist der zweithäufigste Grund, warum Menschen in ein Pflegeheim kommen. Aber auch Jüngere sind betroffen – Frauen zum Beispiel, deren Schließmuskel bei der Geburt eines Kindes verletzt wurde.
„Das Problem wird unterschätzt. Die Patienten gehen oft nicht zum Arzt, weil der Krankheit ein Stigma anhaftet“, sagt Valeria Iansante, die als Life-Science-Spezialistin bei der Europäischen Investitionsbank arbeitet. Die Betroffenen schämen sich und schränken ihr Leben ein, nur damit sie jederzeit schnell zu einer Toilette können. Sie vermeiden Sport und andere Aktivitäten, viele werden depressiv.
Bislang gibt es „nicht wirklich viel, was man tun kann, um das Problem in den Griff zu bekommen“, sagt Iansante. Die gängigen Behandlungen reichen von Ernährungsumstellung und Physiotherapie über Medikamente bis hin zu Elektrostimulation und verschiedenen Operationen. Manche davon sind schwere Eingriffe, die oft nicht dauerhaft helfen.
Langfristige Heilung nach einmaliger Injektion
Innovacell geht einen anderen Weg. Dazu wird ein kirschkerngroßes Stück Gewebe aus dem Brustmuskel der Patientin oder des Patienten entnommen – und zwar unter dem Arm, damit keine sichtbaren Narben bleiben. Aus dem Gewebe isoliert das Unternehmen Stammzellen, entwickelt sie zu Muskelvorläuferzellen und vermehrt sie. Diese Zellen werden dann in den Schließmuskel injiziert und helfen ihm, sich zu regenerieren, sodass er wieder normal funktioniert.
Innovacell arbeitet mit einer patentierten Technologie, um die Zellen mit einer sehr dünnen Nadel einzupflanzen. Das Ganze läuft unter Ultraschall ab, minimalinvasiv und sehr präzise. Vor allem bietet es die Chance auf dauerhafte Heilung: „Wir haben Daten von Patienten, die wir vor acht Jahren behandelt haben – die Wirkung hält an“, sagt Vorstandschef Steinhuber, der das Unternehmen seit 2009 leitet.
EU-Hilfe für den Weg zur Zulassung
Innovacell hat drei Produktkandidaten:
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ICEF15 zur Behandlung von Stuhlinkontinenz, und zwar der sogenannten „Dranginkontinenz“. Dabei spüren die Patienten plötzlich, dass sie zur Toilette müssen, schaffen es aber nicht rechtzeitig.
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ICEF16 gegen „passive Stuhlinkontinenz“, bei der die Patienten nichts spüren, bevor etwas in die Hose geht.
- ICES13 als Therapie gegen „Belastungsharninkontinenz“, bei der ungewollt Harn abgeht, wenn die Patienten husten, niesen oder sich körperlich anstrengen.
Bei ICEF15 ist Innovacell in der Entwicklung am weitesten. Hier beginnen die klinischen Studien in Phase III, nach deren Abschluss die Zulassung beantragt werden kann. In dieser Phase muss das Unternehmen hohe Summen investieren. „Solche Studien kosten zig Millionen Euro“, sagt Steinhuber.
Geld, das in diesem Stadium und in diesem Sektor in Europa nicht leicht zu beschaffen ist. Deshalb suchen sich viele Unternehmen Geldgeber in den Vereinigten Staaten oder Asien, was oft zur Folge hat, dass die Wissenschaft aus Europa abwandert.
„Wir sehen ein mangelndes Interesse europäischer Investoren an Zelltherapien“, sagt Cyril Teixeira Da Silva, der als Kreditreferent bei der Europäischen Investitionsbank an der Finanzierung für Innovacell mitwirkte. „Aber wir möchten diese Innovation in Europa halten.“
Als Bank der EU konnte die Europäische Investitionsbank ein Venture Loan an Innovacell vergeben, das über den Europäischen Garantiefonds abgesichert ist. Der Fonds soll Unternehmen helfen, die unter der Pandemie gelitten haben. „Das ist immer noch eine risikoreiche Investition“, so Teixeira Da Silva. „Ohne die Garantie hätten wir da noch nichts finanzieren können. Wir hätten zumindest auf positive Ergebnisse in Phase III warten müssen.“
Marktchancen in Japan für regenerative Medizin
Innovacell sieht gute Chancen in Japan, das mit seiner älteren Bevölkerung ein Wachstumsmarkt für Therapien gegen Inkontinenz ist. Deshalb führt das Unternehmen auch dort eine Phase-III-Studie durch, um dann die Zulassung für sein Produkt zu beantragen. Japan ist attraktiv, weil man dort das Potenzial regenerativer Therapien erkannt hat. Dadurch können Firmen, die solche forschungsintensiven Therapien entwickeln, leichter höhere Preise erzielen.
Außerdem sind japanische Ärztinnen und Ärzte gut geschult, was die Behandlung von Inkontinenz betrifft, die dort weniger ein Tabu ist als in Europa. Und Japan will weltweit führend in der regenerativen Medizin werden – ganz besonders, seit Shinya Yamanaka 2012 den Nobelpreis für seine Stammzellforschung erhielt.
Innovacell ging im Jahr 2000 als Ausgründung aus der Medizinischen Universität Innsbruck an den Start. Jetzt kann das Unternehmen mithilfe der Bank seine Forschung in die Welt tragen, damit sie Menschen in der Europäischen Union und weltweit zugutekommt.
„Innovacell steht für die Zukunft der regenerativen Medizin“, so Iansante von der EIB. „Der medizinische Bedarf ist hoch und der Nutzen für die Patientinnen und Patienten vielleicht sehr groß. Deshalb unterstützen wir dieses Unternehmen mit EU-Geldern.“