Der erste Dam Removal Europe Award prämiert innovative Projekte, die Flüsse wieder frei fließen lassen. Ein Blick auf die Nominierten und warum der Rückbau von Flussbarrieren so wichtig für die Natur ist

Von Stephen Hart und Catherine McSweeney

Unsere Flüsse sind uralte Zeugen dafür, wie die Landschaften um sie herum entstanden sind. Nur wenige von uns kennen noch einen natürlich fließenden Fluss, der mit den Jahren seinen Verlauf ändert und keinem von Menschen diktierten Weg folgt. Aber die Erinnerung daran existiert weiter in unseren Kulturen und in den Instinkten der Tiere, die die Gewässer auf den Spuren ihrer Vorfahren bis zur Quelle zurückverfolgen wollen. Flüsse sind die Arterien unserer Erde. Sie entwässern die Kontinente, speisen die Küsten und verbinden Land und Meer. Aber sie sind auch eines der schutzbedürftigsten Fundamente der Erde.

Selbst kleinste Barrieren stören die Zirkulation von Lebewesen und den Fluss von Sedimenten, der Ökosysteme und Zivilisationen seit Jahrtausenden versorgt. Abfälle und landwirtschaftliche Abwässer sammeln sich in den Flüssen, bevor sie ins offene Meer gelangen. Durch vielfältige Belastungen haben sich die Populationen von Wanderfischen in Europa seit 1970 um mehr als 90 Prozent und die Süßwasserarten um mehr als 80 Prozent dezimiert. Einige Küstengebiete, denen die lebenswichtige Zufuhr neuer Sedimente fehlt, sinken ab und werden durch den steigenden Meeresspiegel häufiger überschwemmt. Der Klimawandel macht uns einmal mehr bewusst, dass Flüsse eine Naturgewalt sind, die es zu respektieren gilt.

Flüsse sind seit jeher lebenswichtig für die Menschheit, und Barrieren sind ein Versuch der Zivilisation, sie zu beherrschen. Dazu gehören Bauwerke für die Binnenschifffahrt, die Stromerzeugung und die Landwirtschaft.Es gibt über eine Million Barrieren in Europas Flüssen, und es kommen immer weitere hinzu, um Strom aus Wasserkraft zu erzeugen – auch in den letzten frei fließenden Flüssen und Flussabschnitten in Europa.

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© Agencia Catalana del agua

Rückbau der Matabosch-Staustufe, Spanien

Viele Barrieren in europäischen Flüssen erfüllen jedoch nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck. Dazu gehören Dämme, die nicht mehr zur Stromerzeugung, Wasserversorgung oder zum Hochwasserschutz taugen, sowie Wehre, die das Flussbett nicht mehr stabilisieren, weil sie beschädigt sind oder sich die Flusskonfiguration geändert hat. Tausende alter Dämme und Wehre fragmentieren die Arterien des europäischen Kontinents. Durch den Rückbau dieser Barrieren können Flüsse wieder natürlich und frei fließen, Süßwasserökosysteme gedeihen und gefährdete Arten wie der Stör und der europäische Aal wieder leichter wandern.2 Die Renaturierung von Flüssen und ihrer Überschwemmungsgebiete schafft natürliche Wasserpuffer, die für die Menschen von Nutzen sind: Sie erhöhen die Resilienz gegenüber den Folgen des Klimawandels, mindern das Überschwemmungs- und Dürrerisiko, reinigen das Wasser und bieten Erholungsmöglichkeiten. Der Rückbau alter Barrieren ist eine günstige und bewährte Maßnahme, um Flüssen wieder Leben einzuhauchen und die Resilienz zu stärken. Davon profitieren Klima und Umwelt.

Der Rückbau alter Barrieren erweist sich als wirksames Mittel zur Renaturierung von Flüssen. Daher hat die Europäische Kommission in ihrer Biodiversitätsstrategie 2030 das Ziel festgelegt, mindestens 25 000 Kilometer frei fließende Flüsse zu schaffen, indem hauptsächlich alte Hindernisse beseitigt werden. Eine langfristige Strategie für einen verstärkten Rückbau von Barrieren muss mit der Energiepolitik abgestimmt werden. So auch die Frage, welche Flüsse vollständig renaturiert werden sollen und welche neuen und nachhaltigeren Energiequellen, auch umweltfreundlichere Wasserkraft, genutzt werden können.

Auszeichnung für gelungene Projekte: Der Dam Removal Europe Award

Im Jahr 2021 wurden in Europa rund 240 Barrieren beseitigt. Der Dam Removal Europe Award rückt erfolgreiche Initiativen zum Rückbau alter Barrieren in Europas Flüssen ins Rampenlicht. Die Auszeichnung stößt damit europaweit ähnliche Initiativen an und zeigt wirksame Strategien für einen schnelleren Rückbau auf.

Die Auszeichnung wird von einer Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen vergeben, darunter die World Fish Migration Foundation, Wetlands International und der World Wide Fund for Nature. Gemeinsam leisten die Partner der Dam Removal Europe Coalition (darunter Rewilding Europe, The Nature Conservancy und das European Rivers Network) Aufklärungsarbeit und stellen Tausenden Menschen, Kommunen, Wasserbehörden und Fachleuten, die am Rückbau von Barrieren arbeiten, Werkzeuge und Wissen zur Verfügung. Die EIB prämiert das beste Projekt auf dem International Dam Removal Seminar in Portugal mit einem Preisgeld von 10 000 Euro, das die Preisträger in künftige Dammrückbau-Projekte reinvestieren müssen.

 

>@Dam Removal Europe annual report 2021
© Dam Removal Europe annual report 2021

Beseitigte Barrieren pro Land im Jahr 2021

Sehr unterschiedliche Projekte

Insgesamt bewarben sich 15 Projekte aus ganz Europa um den Preis – aus dem Vereinigten Königreich, der Slowakei, Finnland, Deutschland, Frankreich und Spanien. Eine internationale Jury, der auch die Europäische Investitionsbank angehörte, zog davon fünf in die engere Wahl und ermittelte daraus das Siegerprojekt.

Die fünf Projekte auf der Shortlist

Fédération du Pas-de-Calais pour la pêche et la protection du milieu aquatique (association), Fluss Aa, Pas-de-Calais, Frankreich: Rückbau des Damms von Fersinghem. Abriss des Schleusentors von Fersinghem (erbaut im Jahr 1600, 3 Meter hoch und 7 Meter breit; Brandschutz und Wasserkraft) und Öffnung von 3 Kilometern Fluss. 

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Vor und nach dem Rückbau des Damms im Fluss Aa, Pas-de-Calais, Frankreich © Fédération du Pas-de-Calais pour la pêche et la protection du milieu aquatique, Fluss Aa, Pas-de-Calais

Provinzregierung von Gipuzkoa und Ministerium für Umwelt und Wasserbau (staatliche Einrichtung), Fluss Karrika, Oiartzun, Spanien: Rückbau des Galtzaraberri-Damms (erbaut im Jahr 1899, 4 Meter hoch, 32 Meter breit; Wasserkraft). Damm abgerissen und 8 Kilometer Fluss geöffnet. 

Parc Naturel Régional du Haut-Jura (Naturpark), Fluss Tacon, Jura, Frankreich: Projekt „Agir ensemble pour restaurer nos cours d’eau“. Rückbau des Dalloz-Damms (erbaut im Jahr 1900, 3 Meter hoch und 10 Meter breit; ursprünglich Wasserkraft für ein Sägewerk, später Wasserversorgung für industrielle Zwecke) und Öffnung von 3 Kilometern Fluss. 

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Vor und nach dem Rückbau des Dalloz-Damms, Fluss Tacon, Jura, Frankreich. © Parc Naturel Regional du Haut-Jura

South Karelian Foundation for Recreation Areas (Organisation der Zivilgesellschaft), Fluss Hiitolanjoki, Finnland (Südkarelien): Rückbau des Kangaskoski-Damms und Wiederherstellung der Stromschnellen. Abriss des Kangaskoski-Damms (erbaut im Jahr 1925, 4 Meter hoch und 10 Meter breit; Wasserkraft) und Öffnung von 4 Kilometern Fluss. 

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Vor und nach dem Rückbau des Kangaskoski-Damms, Fluss Hiitolanjoki, Südkarelien, Finnland © South Karelian Foundation for Recreation Areas, Finnland

Tyne River Trust (Organisation der Zivilgesellschaft), Fluss South Tyne, Northumberland, Vereinigtes Königreich: Projekt „South Tyne Weir Removal“. Rückbau des Duck-Pond-Damms (erbaut im Jahr 1950, 3 Meter hoch und 5 Meter breit; Wasserquelle für den Ententeich) und Öffnung von 4,5 Kilometern Fluss. 

Das Siegerprojekt

Die finnische zivilgesellschaftliche Organisation South Karelian Foundation for Recreation Areas hat den Kangaskoski-Wasserkraftdamm im Fluss Hiitolanjoki rückgebaut. Errichtet wurde der vier Meter hohe und zehn Meter breite Damm im Jahr 1925. Es handelt sich um den ersten von drei Wasserkraftdämmen, die erworben wurden, um den Fluss für bedrohte Wanderfische zu öffnen und ein seit einem Jahrhundert verlorenes Ökosystem wiederherzustellen. Im Herbst 2023 werden alle Dämme beseitigt sein und die gefährdeten Binnenlachse im Ladogasee an Stellen laichen können, die zuvor durch die Dämme blockiert waren.

Ermöglicht wurde das Hiitolanjoki-Projekt durch die jahrzehntelange Zusammenarbeit der Stakeholder und durch Finanzierungsbeiträge verschiedener Akteure. Es war außerordentlich erfolgreich, nicht nur für die Fische, sondern auch für die Menschen in der Region. Im Herbst 2021 wurden im neu gestalteten oberen Teil der Stromschnellen fünf Laichnester von Lachsen gesichtet. Die einheimische Bevölkerung, die dem Dammrückbau zunächst misstrauisch gegenüberstand, begrüßte das Ergebnis. Die wachsende Lachspopulation macht den Hiitolanjoki zu Finnlands wichtigstem Gewässer für Binnenlachse, was nun die Entwicklung eines verantwortungsbewussten Tourismus ermöglicht. Einige Komponenten der Dämme blieben erhalten und sollen an die Industrialisierung der Region erinnern. Auch der frühere Energieversorger Hiitolanjoen Voima leistet einen größeren Beitrag, indem er als Berater für etwaige weitere Rückbauprojekte in Finnland fungiert.

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© Rob Kleinjens

Wehr von Očová, Slowakei

Lehren aus der Verleihung des ersten Dam Removal Europe Award

  • Die Unterstützung durch die lokale Bevölkerung und andere Stakeholder ist wichtig. Es müssen Zeit und Ressourcen in eine umfassende Konsultation und Aufklärung über die zu erwartenden Vorteile investiert werden.
  • Der Informationsaustausch zwischen Personen, Kommunen, Wasserbehörden und Fachleuten beschleunigt die Beseitigung von Barrieren und damit die Renaturierung von Flüssen.
  •  Was Staudämme anbelangt, gibt es noch große Wissenslücken. In Ländern mit weniger Rückbau-Projekten müssen daher gezielt Kompetenzen und Know-how aufgebaut werden.

Stephen Hart ist Kreditreferent in der Abteilung Infrastruktur- und Klimafinanzierungen der Europäischen Investitionsbank. Catherine McSweeney ist Referentin für die Beziehungen der Bank zur Zivilgesellschaft.

  1. Typische Maßnahmen zur Minderung der Folgen dieser Hindernisse sind Umgehungsläufe für Fische und Sedimente, Fischtreppen, die Anpassung der Infrastruktur zur Gewährleistung ökologischer Fließgewässer und Anlagen zur Vermeidung von Fischsterben.
  2. Laut Definition der Kommission sind „frei fließende Gewässer“ nicht durch künstliche Hindernisse beeinträchtigt und nicht von ihrem Überschwemmungsgebiet abgetrennt (Guidance on Barrier Removal for River Restoration (europa.eu)).