Ein Jahr nach der russischen Invasion kämpfen ukrainische Städte darum, dass die Kinder wieder zur Schule gehen können und das Nötigste funktioniert
23. Februar 2022 in der Ukraine. Die Kinder kommen von der Schule nach Hause, machen ihre Hausaufgaben, essen Abendbrot und bereiten sich vor dem Schlafengehen auf den nächsten Schultag vor. Doch für viele von ihnen gibt es keinen nächsten Schultag.
So beschreibt Andriy Vitrenko, was viele Familien in der Ukraine vor einem Jahr erlebten. Es gab einfach keinen „nächsten Tag“. Vitrenko ist erster stellvertretender Minister für Bildung und Wissenschaft der Ukraine. Ein Jahr nach dem Einmarsch russischer Truppen will er vor allem die Schulen wiederaufbauen. Die Kinder sollen in der Schule sicher lernen können und eine Zukunftsperspektive haben.
„Jeden Tag fragen sich Kinder in der Ukraine, ob sie wieder zur Schule können oder nicht“, erklärt Vitrenko. „Dort fehlt es eigentlich an allem. Wir brauchen neue Lehrbücher, Stühle und Tische, Luftschutzkeller.“
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Mit diesen Worten umriss Vitrenko Anfang Februar 2023 die Lage in seinem Land, als er in Luxemburg an einem internationalen Forum für den Wiederaufbau der Ukraine teilnahm, das mit Unterstützung der Europäischen Investitionsbank stattfand. Nach Angaben der ukrainischen Regierung belaufen sich die Schäden durch die russische Invasion inzwischen auf mehr als 750 Milliarden US-Dollar. An dem Forum nahmen etwa 50 Vertreterinnen und Vertreter aus der Ukraine teil, darunter Regierungsspitzen und Bürgermeister, die darum kämpfen, dass in ihren Städten das Nötigste funktioniert.
Auf dem Forum ging es um Wege, um:
- Warenlieferungen in die Ukraine zu beschleunigen
- mehr Flüchtlingen zu helfen
- den Zugverkehr aufrechtzuerhalten
- die Landwirtschaft am Laufen zu halten
- weiter Stahl zu produzieren
- Unterkünfte für Kinder zu finden, die ohne Eltern sind oder nicht zur Schule gehen
- die Digitalisierung voranzubringen
Nach dem Einmarsch der russischen Truppen kam es für Serhiy Solomakha, Bürgermeister von Myrhorod in der Zentralukraine, vor allem darauf an, die Schulen offen zu halten. Myrhorod ist für seine Thermalbäder bekannt. Die Stadt nahm über 10 000 Geflüchtete auf, mehr als 20 Prozent ihrer Einwohner.
„Gleich nach Kriegsbeginn ging das Problem mit dem Schulbetrieb los“, erzählt Solomakha. „Aber jeden Tag kamen weitere Herausforderungen hinzu: medizinische Einrichtungen, der Verkehr im Zentrum, die Versorgung mit Wärme, Wasser und Wohnraum.
In der ersten Woche nach der Invasion stellten die Schulen in Kriegsgebieten komplett auf Online-Unterricht um, erzählen die Bürgermeister. Einige Monate später lief dann in vielen Städten allmählich wieder der Präsenzunterricht an, sofern die Schulen einen Luftschutzkeller hatten.
Mit Geld aus einem umfangreichen Kredit, den die EIB über ihr Wiederaufbauprogramm an die Ukraine vergeben hat, werden in Myrhorod Kriegsschäden behoben. Für zwei wichtige Einrichtungen – ein Zentrum für ästhetische Bildung und eine Kunstschule – bekam die Stadt 500 000 Euro. Beide Gebäude empfangen täglich Hunderte Schülerinnen und Schüler, darunter Kinder aus rund 2 000 Flüchtlingsfamilien. Die im Dezember 2022 wiedereröffneten Einrichtungen bieten Theater- und Chorunterricht, aber auch Näh-, Handwerks- und noch viele andere Kurse an.
Schule – mehr als ein Traum
Einige der Helfer, die in den kaputten Schulen neue Wasserleitungen legten, Fenster einsetzten und Licht und Strom reparierten, bekamen wegen der kriegsbedingten Zahlungsprobleme monatelang kein Geld dafür. Viele von ihnen waren Frauen, weil die Männer für ihr Land an der Front kämpften.
„Das neue Zentrum sollte nicht nur ein Traum sein“, erklärt Bürgermeister Solomakha. „Trotz aller Probleme haben viele Menschen geholfen, damit die Kinder weiter lernen und einen Abschluss machen können.“
Artem Semenikhin ist Bürgermeister von Konotop, einer kleinen Stadt im Nordosten der Ukraine. Er mahnt, bei den Überlegungen zum Wiederaufbau unbedingt daran zu denken, dass der Krieg nicht erst vor einem Jahr begonnen hat.
„Der Krieg in unserem Land dauert schon mehr als acht Jahre“, stellt er klar und meint damit die russische Annexion der Halbinsel Krim. „Aber erst beim Überfall auf die Ukraine sind die Menschen aufgewacht. Jetzt sehen und machen sie vieles anders. Ich bin froh, dass sie endlich die Augen aufmachen. Dieser Krieg kommt unsere Gesellschaft extrem teuer zu stehen. Aber wir fangen durch ihn auch an zu begreifen, wie wertvoll die Freiheit ist.“
Semenikhin und Serhii Morhunov, Bürgermeister der Stadt Winnyzja im Westen der Zentralukraine, sind sich einig: Seit dem Krieg befassen sich mehr Menschen in der Ukraine mit dem russischen Problem – etwas, was viele bis dahin im normalen Alltag ausgeblendet hatten.
„Krieg ist für alle Menschen schlimm. In jedem Land und in jeder Stadt“, so Morhunov. „Aber in der Ukraine hat er uns in erster Linie zusammengeschweißt. Alle sind mehr denn je entschlossen, ihr Land gegen die Angreifer zu verteidigen.“
Semenikhin ergänzt: „Bis zum 24. Februar 2022 lief das Leben für manche in normalen Bahnen: Arbeit, Haushalt, Kinder. Das Übliche eben. Und was woanders in der Welt passiert, war nicht weiter von Belang. Aber jetzt ist es das – für jede Familie und für jedes Kind.
Für die Kinder ist der Krieg besonders schlimm, bedauern die Bürgermeister.
„Was er mit den Kindern macht, tut am meisten weh“, sagt Semenikhin. „Sie leiden unter dem Krieg und müssen irgendwie damit klarkommen. Kinder spielen sogar an Straßensperren: Sie halten Autos an, sagen Parolen auf Ukrainisch und sammeln Geld für die Armee. Damit kaufen wir dann Ausrüstung für unsere Städte.“
Kinder könnten um Jahre zurückgeworfen werden
Der Krieg könnte die Kinder weit zurückwerfen. Darunter wird das Land noch lange leiden, meint Solomakha.
„Wir dürfen jetzt nicht eine ganze Generation verlieren. Wenn unsere Kinder im Krieg nicht zur Schule gehen können, haben wir in fünf bis zehn Jahren noch viele andere Probleme. Kinder müssen bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, damit sie später die Ukraine voranbringen können.“
Auf die Frage, was die Menschen in der Ukraine jetzt besonders dringend brauchen, stimmt Semenikhin Vize-Bildungsminister Vitrenko zu. Oberste Priorität haben jetzt sichere Unterkünfte für diejenigen, die kein Zuhause mehr haben. Danach kommen Lebensmittel, Stromgeneratoren, Kraftstoff, Waffen und Kampfjets.
„Aber das Wichtigste sind Luftschutzkeller, wo die Menschen sicher sind und länger bleiben können“, sagt Semenikhin. „Ein gut erreichbarer Luftschutzkeller rettet Leben, und zwar nicht nur Dutzende, sondern Hunderte oder gar Tausende. Solche Schutzräume sind wirklich wichtig, und es gibt noch nicht genug davon.“
Für ihren Bau braucht es Arbeitskräfte. Aber auch mehr Geld und flexible Rückzahlungsbedingungen, so die Bürgermeister. „Außerdem brauchen wir mehr technisches und wirtschaftliches Fachwissen. Nur so schaffen wir einen Wiederaufbau nach hohen europäischen Standards“, erklärt Morhunov.
Das Hilfspaket der EIB für die Ukraine hat drei Schwerpunkte: technische Hilfe durch das Beratungsteam, zügiges grünes Licht für Kredite von ihren Kreditreferenten und Ingenieuren sowie flexible Konditionen. Seit der russischen Invasion hat die Bank zusammen mit der Europäischen Kommission und der Regierung der Ukraine 1,7 Milliarden Euro mobilisiert, um dem Land zu helfen.
Die Bürgermeister sind optimistisch, dass der Krieg zugunsten der Ukraine ausgeht. Aber niemand weiß, wann das sein wird.
„Allen muss klar sein, dass die Ukraine nicht mehr das Land ist, das sie vor dem 24. Februar 2022 war“, mahnt Bürgermeister Semenikhin. „Wir kämpfen heute um jeden Quadratzentimeter. Wir lieben unser Land und fühlen, dass wir für die Freiheit der gesamten zivilisierten Welt kämpfen.“