Europas Städte werden auch in Zukunft für Inspiration und Innovation stehen – gut geführt, nachhaltig, unverwechselbar, für alle offen. Tim Moonen erklärt, warum wir optimistisch sein können.

Europa und seine Städte müssen viel Kritik einstecken: Mit seiner politisch und wirtschaftlich heterogenen Landschaft verliert sich Europa in kurzfristigen Problemen. Seine Städte sind fast alle zu klein, um international mithalten zu können, der demografische Ausblick ist schlecht, der Wettlauf um die Vorherrschaft in der künstlichen Intelligenz schon fast verloren. Und die wichtigsten europäischen Städte sind längst Museen, die nur vom Tourismus leben und sich gegen Erneuerung und Reformen sträuben.

Asien dagegen wird allgemein gelobt. Dort wandeln sich die Städte in großem Stil. Sie wachsen unglaublich schnell, sind dicht besiedelt, und Asiens Hochgeschwindigkeitszüge und digitale Infrastruktur verbinden die chinesischen Boomstädte ebenso wie die florierenden südostasiatischen Drehkreuze. Amerika, so heißt es, wird dank seiner ausgereiften urbanen Innovationskultur und seines etablierten unternehmerischen Ökosystems auch in der „Next Economy“ die Nase vorn haben. Das Land ist bestens gerüstet für die neuen Technologien, die seine Städte grundlegend verändern werden.

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Sind die europäischen Städte wirklich auf der Verliererstraße?

Vieles von dem, was über die Zukunft europäischer Städte geschrieben wird, ist der Versuch, eine schnelle Erklärung für die Auswirkungen der Globalisierung und des technischen Wandels zu finden. Dabei wird völlig übersehen, was den langfristigen Erfolg von Städten eigentlich ausmacht. Sicherlich stehen Europas Städte vor neuen Aufgaben, denen mit althergebrachten Lösungen nicht beizukommen ist. Aber wenn man sie aus globaler Sicht als Gruppe oder „System“ betrachtet, zeigen sie auch einzigartige Stärken, die man auf anderen Kontinenten oft vergeblich sucht. Damit sind sie für die Aufgaben und Anforderungen der kommenden Jahrzehnte gut gerüstet.

Fünf Gründe stimmen optimistisch für die Zukunft von Europas Städten.

1. Europa zeigt der Welt, wie Städte effizient verwaltet werden

Verglichen mit anderen Teilen der Welt gibt es in Europa viele mittelgroße Städte, die lebendig, speziell und weltweit einzigartig sind. Sie sind über nationale Plattformen international angebunden und überwiegend gut geführt, denn sie haben im Laufe der Zeit ein passendes Verwaltungsmodell für das 21. Jahrhundert gefunden. Das sind ihre Vorteile:

  • Die Verwaltungsstrukturen passen zur wirklichen Größe der Stadt
  • Gebietskörperschaften stimmen sich untereinander ab und arbeiten eng zusammen
  • Investitionen zur Aufrechterhaltung und Verbesserung grundlegender kommunaler Dienstleistungen sind nachhaltig gesichert, etwa durch lokale Einnahmen und Neuinvestitionen auf EU-Ebene
  • Das Stadtmanagement ist kompetent und transparent

Das Ergebnis: Die Koordination funktioniert in Europa besser als anderswo, und auch die Investitionen sind erfolgreicher. Viele Städte, wie etwa Amsterdam, Barcelona, Stockholm und Wien, haben bewährte Verfahren für Neuinvestitionen und verfolgen eine kohärente Strategie. Zudem ist die Qualität ihrer öffentlichen Dienste gut. So können sie sich jederzeit auf den jeweiligen Bedarf ihrer Bürgerinnen und Bürger einstellen und sich auch global behaupten.

2. Europas Städte setzten auf Nachhaltigkeit

Die UN-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung mögen erst drei Jahre alt sein, aber Europas Städte beschäftigen sich schon wesentlich länger mit diesem Thema. Sie sind führend beim Klimaschutz, setzen massiv auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz und stecken sich auf diesem Gebiet ehrgeizige Ziele. Auch die Gesetze und Vorschriften sind hier wesentlich strenger.

Nirgendwo werden nachhaltiger Verkehr und ein aktiver Lebensstil so gezielt gefördert wie in Europa: Madrid und Oslo haben 2018 alle Autos von Nicht-Anwohnern aus ihren Stadtzentren verbannt. Paris baut seine Radwege zweispurig aus, schafft finanzielle Anreize für Elektroautos und verhängt – wie auch Brüssel – in zentralen Vierteln Fahrverbote für die umweltschädlichsten Fahrzeuge. Kopenhagen will den Autoverkehr auf 25 Prozent drücken, Wien auf 20 Prozent, und Berlin nimmt sich die Fahrrad-„Schnellstraßen“ in London zum Vorbild.

Diese Entwicklungen sind keineswegs auf die Hauptstädte beschränkt. Zwei Drittel der 800 Städte in der EU haben bereits einen Klimaschutz- oder einen Klimaanpassungsplan. Viele weitere haben die Klimaresistenz voll in ihre langfristigen Entwicklungsstrategien integriert. 1

All diese Bemühungen werden auch in zahlreichen globalen Studien gewürdigt (vgl. Tabelle). Hier schneiden europäische Städte meist wesentlich besser ab als ihre amerikanischen und asiatisch-pazifischen Pendants zusammengenommen. 2

Die 25 wichtigsten europäischen Städte im weltweiten Vergleich (ausgewählte Bereiche)
  Nachhaltigkeit Infrastruktur
Langfristige Nach-haltigkeit Grün-zonen Resilienz und Risiko Mobilität Transport-effizienz „Smartness“
Arcadis Sustainable Cities Index (weltweit) Digital Nomads Index Lloyd's City Risk Index Arthur D Little Mobility Index 3.0 IESE Cities in Motion (Mobilität) EasyPark Smart Cities Index
Anzahl der bewerteten Städte 100. 56. 279. 100. 165. 100.
London 11. 23. 59. 7. 2. 17.
Paris 25. 46. 30. 8. 1. 20.
Amsterdam 16. 26. 50. 3. 13. 8.
Berlin 8. 19. 23. 12. 6. 13.
Stockholm 1. 19. 23. 12. 6. 13.
Madrid 15. 41. 130. 13. 9. 51.
Kopenhagen 5. 8. 10. 4. 43. 1.
Barcelona 22. 53. 136. 16. 12. 53.
Mailand 40. 52. 26. 22. 16. 60.
Wien 4. 7. 7. 6. 14. 32.
Brüssel 46. 36. 33. 20. 19. 62.
Zürich 3. / 11. 9. 75. 4.
Dublin 31. 24. 34. / 100. 42.
Frankfurt 2. 28. 16. 22. 29. 33.
München 9. 13. 9. 14. 8. 25.
Rom 24. 44. 73. 62. 23. 71.
Prag 68. 23. 45. 17. 66. 72.
Oslo 6. 9. 21. / 78. 34.
Helsinki / 14. 110. 10. 67. 23.
Warschau 74. 25. 74. 19. 58. 89.
Lissabon 39. 42. 113. 52. 93. 64.
Genf 12. 3. 13. / 54. 9.
Budapest 62. 48. 107. / 65. 79.
Bukarest / / 102. / / 87.
Tallinn / 34. 169. 20. 59. 76.

Diese Maßnahmen europäischer Städte für mehr Zukunftssicherheit haben nicht nur bedeutende soziale Auswirkungen, sondern auch wirtschaftliche Vorteile:

  • Die Städte sind zuverlässige Partner für Unternehmen, die in Nachhaltigkeit investieren
  • Risikobewusste Unternehmen und Investoren wissen, woran sie sind
  • Die Städte werden zu Beratern für den Rest der Welt in Sachen nachhaltige Urbanisierung

3. Europas Städte haben eine tief verwurzelte, eigenständige Kultur, die sie attraktiv macht und Identität, Beschäftigung und Gemeinsinn stärkt

Außerhalb Europas wenden sich viele Städte nur langsam der Kultur zu. Sie beginnen erst jetzt, verstärkt kulturelle Investitionen zu fördern, ihr architektonisches Erbe und ihre ethnische Vielfalt zu pflegen, herausragende Kunstwerke in einem breiteren kulturellen Zusammenhang zu präsentieren und durch eine starke Bürgerbeteiligung Kultur einfacher zugänglich zu machen. In Europa ist all das schon Realität. Die europäischen Städte haben mindestens dreißig Jahre Erfahrung damit. Sie wissen, dass Kultur und Kreativität die Stadtentwicklung fördern, und sie haben die politischen Rahmenbedingungen und die Instrumente dafür.

Die globale Analyse zeigt, dass das Interesse und die Wertschätzung für Kunst und Kultur in europäischen Städten vergleichsweise hoch ist. Ihr Talentpool in der Kunst ist groß, und ihre kulturellen Einrichtungen und Szeneviertel haben eine lange Tradition. Die Einflüsse daraus auf andere Kreativbranchen sind vielfältig belegt.

Kultur ist ein Schlüsselfaktor, wenn wachsende Metropolen wettbewerbsfähig, lebenswert und nachhaltig sein wollen. Die kulturelle Tiefe europäischer Städte stärkt die geistige Gesundheit, die Produktivität, den Zusammenhalt und Gemeinsinn. Gleichzeitig zieht sie wie ein Magnet besondere Talente an.

Kultur wertet das Image und den Ruf der europäischen Städte auf und prägt ihren besonderen Charakter – egal wie groß sie sind. In den weltweiten Meinungsumfragen belegen europäische Städte stets die obersten Ränge. Die Gründe dafür sind ihr Angebot an Kunst, Kultur und Unterhaltung, die Attraktivität ihrer Universitäten sowie ihr kulturelles und geschichtliches Erbe und ihre Infrastruktur. Immer mehr kleine und mittelgroße Städte sind mittlerweile international bekannt. Aarhus, Edinburgh, Galway, Krakau, Ljubljana und San Sebastian sind nur einige Beispiele. Die kulturelle Energie Europas strahlt auch auf seine Städte aus, die für Vielfalt, Innovation und Inspiration stehen.

4. Europas Städte werten ihre Stadtkerne auf und machen sie so lebenswerter

Eine Stadt ist dann lebenswert, wenn die Verkehrsverbindungen funktionieren und wenn Nachhaltigkeit, Gemeinwohl, Zugehörigkeit und vor allem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Viele Städte wollen lebenswert sein. Aber ob sie das auch schaffen, hängt stark von der Infrastruktur, der Verwaltung und der Investitionstätigkeit über viele Entwicklungszyklen ab. Europas Städte sind so gewachsen, dass sie insgesamt eine hohe Lebensqualität garantieren. Sie profitieren außerdem von der Abstimmung untereinander, die zu einer gemeinsamen langfristigen Planung und anhaltend hohen Infrastrukturinvestitionen führt.

Die Welt beneidet viele europäische Städte um ihre modernen Stadtbahnen, ihren Wohnraum und ihre Versorgungseinrichtungen. Die Städte sind fußgängerfreundlich, die Vororte sind gut angebunden, und das öffentliche Gesundheitswesen ist vorbildlich. Viele Städte haben ein kompaktes Stadtmodell mit „mittlerer Dichte und hohem Wohlfühlfaktor“ entwickelt. Es ist effizienter und entspricht eher den Vorlieben der Einwohner und mobilen Berufstätigen, die eine gemischte Nutzung, Interaktionsmöglichkeiten und eine Stadt „nach Bedarf“ bevorzugen. Da etliche europäische Städte zudem gut an ihre Nachbarstädte angebunden sind (etwa Amsterdam an Utrecht, Kopenhagen an Malmö und Danzig an Gdynia), können die Einwohner flexibel wählen, wo sie wohnen und arbeiten wollen.

Entsprechend ist in relativ vielen europäischen Städten das Vertrauen in die Stadt- und Regionalverwaltung hoch. Es kommt auch wesentlich seltener zu sozialer und räumlicher Polarisierung. Von den zwanzig weltweit führenden Städten beim sozialen Zusammenhalt liegen fünfzehn in Europa.

Da sich die Einwohner mit den Maßnahmen in ihrer Stadt identifizieren können, hat in Europa das Konzept der „Smart Cities“ konkrete und kostengünstige Auswirkungen auf das Gemeinwohl. Gewiss: Viele bekannte Prestigeprojekte finden außerhalb Europas statt. Aber hier arbeitet man geduldig an intelligenten Städten im richtigen Maßstab, indem man allgemein anwendbare und reproduzierbare Standards schafft. Und diese Arbeit profitiert von den Harmonisierungsbemühungen und Anreizen der europäischen Institutionen. Hinzu kommt, dass es den Stadtverwaltungen immer besser gelingt, vertikale Organisationssilos aufzubrechen. Im kommenden Jahrzehnt schaffen Datennetze die Voraussetzung für das Internet der Dinge. Dann wird Europa mit intelligenteren Netzen und Augmented-Reality-Plattformen einen Vorsprung haben, weil seine Stadtverwaltungen eng und effektiv zusammenarbeiten.

5. Europäische Städte stellen ihr Know-how und ihr Fachwissen der ganzen Welt zur Verfügung

Europas Städte sind also in vielerlei Hinsicht Vorbild und Inspiration für die Welt. Daher sind sie gut gerüstet, um auf Nachfrage aus dem Ausland zu reagieren und andere Städte auf ihrem langen Weg des Wachstums und der Urbanisierung zu begleiten.

Durch die Globalisierung und die Entwicklung der industriellen Wertschöpfungsketten werden Schwellenländer bald zu den wichtigsten Konsumentenmärkten. Ihre Unternehmen machen den europäischen Firmen immer stärker Konkurrenz. Gleichzeitig entwickeln sich die Bewohner dieser Länder zu Kunden, die moderne Produkte, hochwertige Dienstleistungen, Unternehmens-Know-how, fundierte Erfahrung und erstklassige Bildung suchen – alles in noch nie da gewesenem Maßstab. Die europäischen Städte haben die Erfahrung und den Status, um das zu ihrem Vorteil zu nutzen. Man kennt sie, man vertraut ihnen, und man bewundert sie.

Europa ist also gut aufgestellt, um die neue Nachfrage aus den Schwellenländern zu decken. Die Qualität und Beliebtheit seiner Universitäten, Händler, Mode- und Designerlabels, seiner Architekten und Vermögensverwalter sowie der medizinischen Versorgung sprechen für sich. Dieser Vorsprung Europas ist wichtig. Denn bei Dienstleistungen, Abonnementdiensten, Software oder geistigem Eigentum ist das Wachstum viel höher als beim Warenhandel. Fachwissen und implizites Know-how werden als Exportgut immer wertvoller. Da ist Europa mit seinen hoch qualifizierten Arbeitskräften und seinem zuverlässigen Schutz des geistigen Eigentums klar im Vorteil.

Europas Handelsüberschuss bei Dienstleistungen ist bereits von 16 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf mehr als 250 Milliarden Dollar hinaufgeschnellt. Gleichzeitig spielen für Unternehmen im laufenden und kommenden Zyklus weniger die Kosten, sondern vielmehr die Kundennähe, die Qualität und der Ausbaugrad der Infrastruktur sowie der Talentpool eine Rolle. Diese Schwerpunktverlagerung ist für Europa von Vorteil. Sie ist einer der Gründe, warum Unternehmen nach wie vor viel in Europa investieren und warum die Zahl der Start-ups und Börsengänge in den meisten europäischen Städten zunimmt. Größe und Wachstumsraten einer Stadt bleiben zwar wichtig, aber es ist ein gutes Zeichen, dass Qualität und Effizienz immer mehr an Bedeutung gewinnen.

Europas Städte haben ihre Widerstandskraft schon unter Beweis gestellt. In den letzten fünfzig Jahren haben sie sich praktisch neu erfunden. Sie haben die postindustrielle Talsohle hinter sich gelassen und sich zu pulsierenden und vielschichtigen Metropolen entwickelt. Auch in den kommenden fünfzig Jahren werden sie unter dem Einfluss neuer Entwicklungen stehen: neue Industriezweige, Klimakatastrophen, soziale und politische Polarisierung und der Aufstieg Asiens werden Folgen haben. Dies müssen die Städte Europas und ihre Vertreter nicht fürchten. Mit ihren Verwaltungsstrukturen und Investitionsplattformen, ihren soliden Einrichtungen, ihrer „Soft Power“ und ihrem guten Ruf haben sie alle Trümpfe in der Hand. Europas Städte sind für die Zukunft gerüstet!

[1] https://www.citymetric.com/horizons/we-examined-over-800-european-cities-plans-tackle-climate-change-here-s-what-we-found-3889

[2] AECOM