Unternehmen hilft mit Videospielen gegen Sprechstörungen: Say It Labs kombiniert Sprechtherapie mit Spracherkennung und KI
Erich Reiter war Ingenieur für Spracherkennung in Belgien. Er arbeitete gerade an der Technologie für Siri von Apple, als ein enger Freund die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, erhielt.
Hilflos musste er zusehen, wie der Freund seine Sprechfähigkeit verlor und bald nur noch über ein Gerät kommunizieren konnte. „Einmal brauchte er drei Minuten, um zu sagen, dass er Durst hatte“, erinnert er sich. „Es war erschütternd, herzzerreißend.“ Die Erkrankung des Freundes ließ Reiter nicht mehr los. Er quittierte seinen Job und begann ein Masterstudium in Sprech- und Sprachpathologie – überzeugt, dass „das Fachgebiet enorm von neuen Technologien profitieren könnte.“
2017 kam er mit Lukas Latacz zusammen, einem Informatiker, der sich auf Algorithmen für Menschen mit Sprechstörungen spezialisiert hatte. Gemeinsam entwickelten sie ihre Idee, Sprechstörungen mit Videospielen zu überwinden. Dazu wollten sie Spracherkennungs-Technologie mit KI kombinieren.
„Anfangs war das nur ein kleines Projekt“, erzählt Reiter. „Dann sahen wir, wie begeistert die Kinder mit ihrer Stimme Felsbrocken sprengten und Raketen lenkten. Sie nutzten ihre Stimme wie nie zuvor. Diese Begeisterung zeigte uns: Das Ding war ein Volltreffer.“
2019 gründeten Reiter und Latacz ihre Firma Say It Labs. 2023 standen sie damit im Finale des Wettbewerbs für Soziale Innovation der Europäischen Investitionsbank. Dort werden Unternehmen ausgezeichnet, die eine positive soziale, ethische oder ökologische Wirkung erzielen.
Wenn einfach sagen schwerfällt
Nach Reiters Berechnungen und gängigen Statistiken haben mehr als 600 Millionen Menschen weltweit eine Sprech- oder Sprachstörung: Stottern, Artikulationsstörungen, Parkinson – die Liste ist lang.
„Wer eine Sprechstörung hat und sich nicht gut verständigen kann, landet schnell am Rande der Gesellschaft“, sagt er. „Solche Menschen werden leicht ausgegrenzt. Oft finden sie nicht den Job, den sie suchen, brechen Studium oder Ausbildung ab und tun sich schwer mit Beziehungen.“ Das kann Depressionen auslösen, bis hin zum Selbstmord.
Was Reiter auch herausfand: Nur neun Prozent aller Betroffenen erhalten eine passende Therapie. In vielen Entwicklungsländern gibt es keine Fachleute für Sprechpathologie, und auch in wohlhabenden Ländern ist die Therapie oft teuer und schwer zugänglich.
Ein Smartphone oder Tablet hingegen haben die meisten. Mit den technischen Möglichkeiten von heute – etwa maschinellem Lernen und Big Data – lassen sich die Geräte als bezahlbare „Therapeuten“ nutzen, und zwar jederzeit.
Mehr als ein Spiel
Für ihr erstes Spiel Stutter Stars (zuvor Fluency Friends) griffen Reiter und Latacz auf ein sehr erfolgreiches Programm zurück, dass die Sprechpathologin Susan Fosnot vor 20 Jahren gegen Stottern entwickelt hatte. „Die beiden nahmen das Programm und machten daraus einfach ein Videospiel. Das fand ich spannend“, erzählt sie.
Die erste Version in englischer Sprache kam im Oktober 2023 auf den Markt. Das Spiel wird als Bezahlabo angeboten, kostet aber nur den Bruchteil einer Sprechtherapie, bei unbegrenztem Zugang. Nach und nach will Say It Labs nun weitere Sprachversionen herausbringen und Spiele für andere Sprechstörungen entwickeln.
Stutter Stars ist um die Figur Zumi aufgebaut. Seiner Stimme beraubt, landet Zumi auf einer einsamen Insel. Dort trifft er andere Figuren, die ihn durch verschiedene Techniken der Sprechtherapie leiten. Nach und nach lernt er so wieder sprechen. Auf seinem Weg reist er von Insel zu Insel und springt dabei von einem Level zum nächsten.
Wie andere Videospiele arbeitet auch Stutter Stars mit Zufallsgeneratoren und Bosskämpfen. „Wir verstecken die Sprechtherapie in gewisser Weise“, sagt Reiter. „Die Kinder wollen ja nicht das Gefühl haben, eine Sprechtherapie zu machen. Sie wollen einfach nur spielen.“ Dabei machen sie unbewusst auch Achtsamkeitsübungen. Wenn beispielsweise ein Spieler ein- und langsam wieder ausatmet, um einen virtuellen Heißluftballon aufzublasen.
Stutter Stars bietet insgesamt 40 bis 50 Stunden Spielspaß. 15 Minuten täglich empfiehlt Say It Labs, damit es wirklich etwas bringt. Was genau Stottern verursacht, ist bis heute nicht bekannt. Weitgehend einig ist sich die Wissenschaft aber, dass es eine neurologische Entwicklungsstörung ist. Reiter sagt: „Im Kern geht es um die sogenannte neuronale Plastizität – die Fähigkeit des Gehirns, Nervenzellen immer wieder neu zu verknüpfen. Intensität spielt eine Rolle. Wenn sich im Gehirn etwas ändern soll, müssen wir das oft wiederholen.“ Es gibt auch Belege dafür, dass Videospiele solche Verknüpfungen fördern können.
Virtuelle Spiele für reale Ergebnisse
Stutter Stars sammelt bei jeder Spielrunde Daten und erstellt Berichte, aus denen sich die Fortschritte für die weitere Therapie ablesen lassen. Ab 2024 will Say It Labs zudem die Wirkung des Spiels im Zeitverlauf analysieren und die Gehirnaktivität der Spielerinnen und Spieler messen.
Bei den Nutzern schneidet das Spiel derweil hervorragend ab. In einer Bewertung heißt es: „Ich habe schon viele Sprechtherapien gemacht, aber nichts davon hat so viel gebracht wie dieses Spiel. Die Techniken lassen sich unmittelbar im echten Leben anwenden ... Das Spiel richtet sich zwar an Kinder, aber es ist wirklich für jeden etwas, der stottert. Ich kann das nur empfehlen.“
Sprechpathologin Fosnot setzt das Spiel auch selbst in der Therapie ein, nachdem sie die Grundlagen vermittelt hat. „Ich hätte das nicht erwartet“, sagt sie. „Aber wenn die Kinder das zehn Minuten täglich spielen, brauchen sie keine Sprechtherapie mehr.“
Sprechstörungen müssen einer großen Karriere nicht im Wege stehen, wenn sie richtig behandelt werden. Marilyn Monroe, Winston Churchill und Joe Biden sind der Beleg dafür – sie alle haben gestottert. Über das Spiel, hofft Say It Labs, können junge Menschen große Träume wagen ... oder sich einfach nur wohl dabei fühlen, wenn sie ihre Gedanken laut aussprechen.