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Von Diego Tonelli und Valeria Iansante

Als Alexander Fleming1 am 3. September 1928 morgens ins Labor kam, ahnte er noch nicht, dass er bald den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern würde. Auf einer ungereinigten Petrischale hatte sich Schimmel gebildet und die Bakterien getötet, an denen Fleming forschte. Diese Entdeckung gab den Anstoß zur Entwicklung eines der ersten fabrikmäßig hergestellten Antibiotika: Penicillin. Seither hat das Mittel über 200 Millionen Menschen das Leben gerettet.2

Die Geschichte der Pharmazie ist eine Geschichte von Entdeckungen und bahnbrechender Forschung. Doch mit dem Wachstum der Pharmaindustrie zu einer der größten Branchen weltweit sind auch die Innovationskosten gestiegen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 geben Unternehmen rund eine Milliarde US-Dollar aus, bis ein neues Medikament auf dem Markt ist.

Zudem muss die Entwicklung neuer Arzneimittel und Therapien auch mit entsprechenden Fortschritten in der Produktion einhergehen. Aber bei der Einführung neuer Technologien hinkt die Pharmaindustrie bislang eher hinterher. Wir erklären, woran das liegt und was sich dagegen tun lässt.

 

Penicillin hat über 200 Millionen Menschen das Leben gerettet, seit es auf dem Markt ist.

Regulierung und Innovation

Die Pharmaindustrie ist streng reguliert.3 Verständlicherweise, denn die Patientensicherheit hat Vorrang! Deshalb müssen alle wesentlichen Änderungen im Produktionsprozess von Zulassungsbehörden genehmigt werden. Pharmaunternehmen müssen also schon bei der Entwicklung eines Medikaments mitbedenken, wie es hergestellt wird. Wichtig ist vor allem die Qualitätssicherung in jedem Schritt, von der Formulierung über die Produktion bis hin zur Verpackung. Da bleibt kein Spielraum für Fehler. Jedes ausgelieferte Produkt muss exakt gleich sein.

Der Weg dorthin folgt dem Prinzip von Trial and Error. Ist das Verfahren dann festgelegt, muss es für jede einzelne Charge genau eingehalten werden, und zwar aus drei Gründen:

  • damit die Produkte immer die gleiche Qualität haben (technisch ausgedrückt: „den Spezifikationen entsprechen“);
  • um möglichst wenig pharmazeutische Wirkstoffe und Geld zu verschwenden und das Risiko zu minimieren, dass Chargen nicht den erforderlichen Standards entsprechen;
  • weil dies den Herstellungsprozess weniger veränderungsanfällig macht.

Ein Faktor ist auch, welche Art von Arzneimitteln vorwiegend hergestellt werden. Gemessen am Marktvolumen sind dies zu 90 Prozent sogenannte niedermolekulare Substanzen.4, 5 Dazu zählen Aspirin, Antihistaminika und die meisten anderen Mittel, die wir in der Hausapotheke haben. Dank ihrer einfachen chemischen Struktur lassen sich diese Produkte relativ leicht und billig herstellen. Und um die Kosten noch weiter zu senken, verlagern die Unternehmen ihre Produktion oft (zumindest teilweise) in Länder mit sehr niedrigen Stückkosten. China und Indien beliefern den Weltmarkt zu einem Anteil von 60 Prozent bei Paracetamol, 90 Prozent bei Penicillin und 50 Prozent bei Ibuprofen.6

>@EIB
©EIB

Strenge Regulierung und Outsourcing, verbunden mit hohen Kosten, um neue Produkte auf den Markt zu bringen – das sind die Gründe, warum die Pharmaindustrie raschen Veränderungen und inkrementellen Innovationen besonders zögerlich gegenübersteht. Mit der Folge, dass die Wertschöpfung in der Fertigung sinkt und die Branchenführer weniger investieren. Und ohne Investitionen keine Innovation.

Aber jetzt muss die Pharmaindustrie ihr Vorgehen überdenken. Neue Therapien zwingen sie dazu, in der Herstellung neue Wege zu gehen.

Von kleinen zu großen Molekülen

Auf der Grundlage wissenschaftlicher Entdeckungen im letzten halben Jahrhundert wurden andersartige, hochmolekulare Medikamente entwickelt – die sogenannten Biologika.7 Das erste Medikament dieser Art wurde 1982 zur Behandlung von Diabetes zugelassen: Insulin.8 Tierisches Insulin gab es zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten auf dem Markt, aber dies war das erste gentechnisch hergestellte „Humaninsulin“. Und das ist das Besondere an Biologika oder Biopharmazeutika: Im Gegensatz zu chemisch hergestellten niedermolekularen Substanzen werden sie ganz oder teilweise aus lebenden Organismen gewonnen oder in ihnen hergestellt.9

Zu den Biologika zählen Impfstoffe, Hormone und viele andere Wirkstoffe, die Millionen Menschen die Chance auf ein gesünderes und längeres Leben geben. Ihre Stärke liegt im Zusammenwirken mit dem menschlichen Organismus, etwa dem Immunsystem. Das erlaubt eine sehr zielgerichtete Behandlung. Biologika spielen deshalb eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Therapien gegen Krebs, Autoimmunerkrankungen und seltene Krankheiten.

© Getty Images

Aber ihre Herstellung ist komplex und anspruchsvoll, was auch die Distribution erschwert. Besonders Zelltherapien10 stellen hohe Anforderungen an die Produktion. Sie bestehen aus ganzen lebenden Zellen. Deshalb müssen diese Produkte in hochkomplexen kontrollierten Prozessen hergestellt werden, um jede Veränderung ihrer biologischen Funktionen auszuschließen. Hinzu kommt, dass herkömmliche Methoden, für sterile Bedingungen zu sorgen, unbrauchbar sind. Ein Erhitzen oder Filtrieren etwa würden die Zellen zerstören. Deshalb müssen andere Lösungen gefunden werden. Und diese Komplexität macht Biologika auch teuer. In den Vereinigten Staaten machten biotechnologisch hergestellte Medikamente 2017 nur 2 Prozent aller verschriebenen Medikamente aus, aber 37 Prozent der Nettoausgaben für Arzneimittel.11

Fortschritte in der Fertigungstechnologie sind daher dringend notwendig, um die Kosten zu senken und die Produktion von Biologika hochzufahren, damit sie weltweit besser zugänglich werden.

Die Europäische Investitionsbank hat dies erkannt. 2019 unterstützte sie Mabion12, einen polnischen Entwickler und Hersteller von Biosimilars13, und die belgische Biotechfirma Univercells14. Univercells arbeitet an vier wichtigen Impfstoffen, die weltweit knapp sind. Sie sollen bald zu einem bezahlbaren Preis in hoher Qualität und großen Mengen hergestellt werden. Eine weitere Finanzierung gewährte die Bank dem Unternehmen 2021 für die Produktion von Coronaimpfstoffen.15

 

© Biontech

Maßgeschneiderte Lösungen gesucht

Fortschritte in der wissenschaftlichen Forschung und die Erkenntnis, dass Menschen auf ein und dasselbe Medikament unterschiedlich reagieren, haben einen Paradigmenwechsel in der Medizin gebracht: Für einen besseren Heilerfolg müssen wir die Behandlung genau auf die Patienten zuschneiden. Vorauszusehen, wie jemand auf eine bestimmte Therapie ansprechen könnte, ist nicht leicht, aber in den letzten Jahrzehnten hat die Medizin hier große Fortschritte gemacht.

Personalisierte Medizin17 ist ein innovatives Konzept, das den herkömmlichen Behandlungsansatz mit niedermolekularen Substanzen und Biologika auf den Kopf stellt. Das Vorgehen wird individuell auf die Patientinnen und Patienten abgestimmt – ihre Gene, Krankheits-Subtypen, Risiken, Prognose und voraussichtliche Ansprache auf die Behandlung. Das gilt für die Prävention, Diagnose und Therapie.

Gentherapien18 sind ein wichtiges Feld der personalisierten Medizin und werden in Zukunft sicher eine noch größere Rolle spielen. Im Prinzip geht es darum, durch Genveränderungen bei den Patienten Krankheiten zu behandeln oder zu heilen.19 Dabei wird ein krank machendes Gen durch ein gesundes ersetzt oder „abgeschaltet“, oder es wird ein neues oder verändertes Gen in den Körper eingeführt.

Die sogenannte „Patientenstratifizierung“, also die verstärkte Auswahl von Patienten, die aufgrund ihrer persönlichen biologischen Merkmale möglicherweise besser auf eine bestimmte Therapie ansprechen, könnte der personalisierten Therapie weiteren Schub geben und auch die Präventionschancen erhöhen. Die Europäische Kommission sieht in personalisierten Behandlungsansätzen die Antwort auf steigende Gesundheitskosten durch chronische Krankheiten und die alternde Bevölkerung. Denn dabei wird kein Geld für verschiedene Therapien verschwendet, bis die passende gefunden ist. Die Patienten erhalten zur rechten Zeit die richtige Behandlung.

Aber dies erfordert einen völlig neuen Ansatz in der Produktion. Im Extremfall wird eine Medikamentencharge nur für einen einzigen Patienten produziert. Das geht nur, wenn es gelingt, solch geringe Mengen kostengünstig herzustellen.

Die Europäische Kommission sieht in personalisierten Behandlungsansätzen die Antwort auf steigende Gesundheitskosten durch chronische Krankheiten und die alternde Bevölkerung. Denn dabei wird kein Geld für verschiedene Therapien verschwendet, bis die passende gefunden ist. Die Patienten erhalten zur rechten Zeit die richtige Behandlung.

Neue Herstellverfahren

Von der Massenproduktion kleiner Moleküle bis zur Hyperpersonalisierung – das ist ein ziemlicher Sprung. In puncto Technologie und Regulierungsumfeld sind wir noch nicht ganz so weit.

Nachdem die Produktion niedermolekularer Substanzen jahrelang ausgelagert wurde, holen die Pharmafirmen ihre Fertigung nun wieder zurück. Die neuen Biologika und die personalisierte Medizin zwingen sie, Forschung, Entwicklung und Herstellung wieder unter einem Dach zusammenzuführen. Gefragt sind jetzt innovative Produktionsverfahren, die sich leicht nach Bedarf hoch- oder runterskalieren lassen.

Das gilt natürlich besonders für Gentherapien und personalisierte Behandlungsansätze, wo die Herstellung ein integraler (und manchmal einzigartiger) Bestandteil der Entwicklung der Therapie selbst ist. In den gentechnischen Verfahren liegt unschätzbar wertvolles Know-how, das oft als geistiges Eigentum geschützt wird.

Die notwendige Technologie für die Massenproduktion innovativer Biologika wird bereits entwickelt. Corona hat dies beschleunigt und etwa die mRNA-Technologie ins Rampenlicht gerückt, mit der sich Impfstoffe und andere Produkte schneller und wesentlich günstiger entwickeln und herstellen lassen. Auch die EIB hat schnell reagiert und die beiden deutschen Unternehmen BioNTech20, 21 und CureVac22 früh gefördert.

Neben neuen Technologien geht der Trend auch zu verstärkter Digitalisierung, kontinuierlicher Produktion und flexiblen Fertigungsprozessen für moderne Medizinprodukte.

Die dezentrale Fertigung ist der nächste Schritt. Eine Möglichkeit, Lieferengpässe wie in der Coronapandemie zu vermeiden, bieten sogenannte Hub-and-Spoke-Modelle. Dazu sind Fertigungszentren (Spokes) in verschiedenen Regionen aufzubauen, um nicht zu stark von einem Standort abhängig zu sein. Aber das ist keine leichte Aufgabe. Die Unternehmen brauchen dafür ein unterstützendes Gesamtumfeld und hoch qualifiziertes Personal.

Nicht zuletzt ist die Pharmaproduktion ziemlich energie- und ressourcenintensiv. Beim Design zukunftsfähiger Produktionsprozesse ist also auch ihre Klimawirkung zu berücksichtigen.23

Die Pharmaindustrie muss einen Zahn zulegen. Covid-19 hat gezeigt, dass die Branche mehr und besser in die Produktion investieren muss. Nur mit innovativen Technologien können wir die Medizin und Therapien der neuen Generation allen zugänglich machen.

Die US-amerikanische Autorin Katherine Dunn schrieb einst: „Vor Penicillin war der Tod ein alltägliches Ereignis.“ Medizinische Innovationen und moderne personalisierte Therapien können die Gesundheitsversorgung vielleicht noch mehr verbessern als Penicillin. Damit können wir Krankheiten behandeln, die einst als „unheilbar“ galten. Aber wir müssen mit Hochdruck auch die passenden Fertigungsstrategien dafür entwickeln, um diese Innovationen zu den Patienten zu bringen, die sie brauchen.

Diego Tonelli arbeitet als Ökonom in der Abteilung Life Sciences der Europäischen Investitionsbank. Valeria Iansante ist Expertin für Biowissenschaften bei der Europäischen Investitionsbank.

 

  1. Sir Alexander Fleming - Biographical (nobelprize.org)
  2. Alexander Fleming - New World Encyclopedia
  3. Quality: manufacturing | European Medicines Agency (europa.eu)
  4. Small molecules - Latest research and news | Nature
  5. Small vs Big: Understanding the Differences between Small Molecule Drugs and Biologic Drugs | IMMpress Magazine
  6. European Parliament
  7. Biologics - Latest research and news | Nature
  8. Insulin (Human) - an overview | ScienceDirect Topics
  9. (PDF) Biologics versus small molecules: Drug costs and patient access (researchgate.net)
  10. Cell therapies - Latest research and news | Nature
  11. Biologics vs. small molecules: Drug costs and patient access - ScienceDirect
  12. Juncker Plan: EIB loan for Mabion highlights support for Poland’s young biotech sector
  13. Bring on the biosimilars (nature.com)
  14. Univercells boosted by EUR 20m European financing to accelerate the delivery of its vaccine portfolio (eib.org)
  15. Belgium: EIB boosts innovative biotech company Univercells with €30 million of European financing to support COVID-19-related projects
  16. Univercells | Biologics For All
  17. Personalized medicine - Latest research and news | Nature
  18. Gene therapy - Latest research and news | Nature
  19. What is Gene Therapy? | FDA – U.S. Food and Drug Administration
  20. EIB provides funding of EUR 50 million to BioNTech as part of the Investment Plan for Europe
  21. Investment Plan for Europe: European Investment Bank to provide BioNTech with up to €100 million in debt financing for COVID-19 vaccine development and manufacturing (eib.org)
  22. Germany: EIB and European Commission provide CureVac with a €75 million financing for vaccine development and expansion of manufacturing
  23. Carbon footprint of the global pharmaceutical industry and relative impact of its major players - ScienceDirect