Ärzte verwenden ein Drittel ihrer Arbeitszeit auf die Dokumentation. Ein deutsches Start-up will sie mit KI entlasten, zum Wohle der Patienten
Es war Anfang der 2010er-Jahre. Wieland Sommer hatte als junger, engagierter Radiologe gerade in einer der größten Kliniken Europas angefangen, dem LMU Klinikum in München. Aber schon bald musste er erkennen, dass er mehr Zeit mit der Dokumentation verbrachte als mit seinen Patienten. „Selbst in der Radiologie, wo der Berichtsbedarf traditionell hoch ist, spürte ich, dass meine Zeit anders besser genutzt wäre“, erzählt Sommer.
Dann hatte er eine Idee: Mit digitalen Technologien Berichte standardisieren und so den Zeitaufwand für die Dokumentation minimieren.
Das könnte eine Menge bringen! Schließlich verwenden Ärztinnen und Ärzte über ein Drittel ihrer Arbeitszeit auf die Dokumentation. Hinzu kommt: Europa hat im Schnitt zwar mehr Ärzte im Verhältnis zur Bevölkerung als der Rest der Welt, aber 40 Prozent von ihnen stehen kurz vor der Rente. Darauf verweist ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation. Europa droht also absehbar ein Versorgungsmangel. Das heißt, jede Arbeitsstunde zählt.
Vorlagen erleichtern die Arbeit
In der Radiologie ist die Lage besonders angespannt. Mit der alternden Bevölkerung steigt der Bedarf an medizinischen Aufnahmen, aber über 80 Prozent der Gesundheitssysteme klagen über einen Ärztemangel in diesem Bereich.
Gleichzeitig geht viel Zeit für Berichte drauf, weil die Dokumentationsverfahren veraltet sind. „Dazu muss man verstehen, wie Radiologen arbeiten“, erklärt Sommer. „Wir beginnen in der Regel jedes Mal von vorne, schauen uns die Bilder an und diktieren dann unseren Befund. So machen wir das selbst bei Folgefällen, und die machen den Großteil unserer Arbeit aus.“
Jeder Arzt und jede Ärztin macht es ein bisschen anders – wenig bis gar nichts ist standardisiert. Das wollte Sommer ändern und gründete 2014 sein Start-up Smart Radiology. Zusammen mit Software-Ingenieuren entwickelte er Befundvorlagen, die sich regelmäßig aktualisieren lassen. So haben die Ärzte in der Klinik immer Zugriff auf die aktuellen Informationen.
Und so funktionieren die Vorlagen:
Beispiel Thorax-CT. Fast 40 Prozent aller Aufnahmen des Brustkorbs betreffen Lungenkrebs. Dazu gibt es eine passende Vorlage, die für die Untersuchung ausgewählt wird. Sie enthält vorgegebene Felder für relevante Angaben sowie klinische Hintergrundinformationen und aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema. So muss man nicht für jeden Befund bei null anfangen.
Und da die Software vollständig sprachgesteuert arbeitet, geht alles ohne einen einzigen Klick.
Digitalisierung der Medizin
Knapp zehn Jahre später ist das Unternehmen längst über die Radiologie hinausgewachsen und firmiert jetzt unter dem Namen Smart Reporting. Über 80 Beschäftigte, darunter zahlreiche Ärztinnen und Ärzte mit Klinikerfahrung, arbeiten für die mehr als 15 000 Nutzer ihrer Software in über 90 Ländern.
Die Europäische Investitionsbank unterstützt Smart Reporting bei der Expansion – mit einer Venture-Debt-Finanzierung von 15 Millionen Euro, abgesichert über InvestEU. Mit dem Programm fördert die EU Investitionen innovativer europäischer Unternehmen, die zur Nachhaltigkeitsagenda der Union passen.
Wie bei Eigenkapital ist bei Venture Debt die Rückzahlung erfolgsabhängig, aber die Gründer müssen keine Anteile abgeben. „Im Gesundheitssektor schlummert noch viel Potenzial für Effizienzgewinne“, sagt Gergely Krajcsi, der als Investment Officer bei der EIB mit dem Projekt zu tun hat. „Und diese Software ist ein großer Schritt nach vorne bei der dringend notwendigen Digitalisierung.“
„Außerdem sehen wir Chancen für medizinische Verbesserungen durch datengestützte Verfahren, die Diagnosen erleichtern und genauer machen“, ergänzt Life-Sciences-Expertin Cristina Niculescu von der EIB.
Das System des Unternehmens „könnte sehr hilfreich sein für weniger spezialisierte Ärzte in kleineren Krankenhäusern. Mit den passenden Vorlagen können sie fundiertere Diagnosen stellen und Entscheidungen fällen“, sagt Krajcsi.
Arzt und KI arbeiten Hand in Hand
Nach Aussage von Smart Reporting spart die Software bis zu 90 Prozent Zeit bei der Dokumentation und 30 Prozent bei den überweisenden Ärztinnen und Ärzten, die die Berichte lesen und danach entscheiden müssen. Und das ist wirklich eine Frage von Leben und Tod. Forschungsergebnisse belegen einen Rückgang der Patientensterblichkeit um 4,3 Prozent, nachdem standardisierte Berichte in der Pathologie eingeführt wurden.
Smart Reporting nutzt für seine Software auch künstliche Intelligenz. KI misst die Größe der Anomalien auf einem Bild. So können die Ärzte bei Folgebildern leicht vergleichen und sehen, ob sich etwas erheblich verändert hat. „Die Software bindet die KI-Ergebnisse automatisch in den Bericht ein, ohne den Arzt zu ersetzen“, erklärt Co-CEO Peter Vanovertveld von Smart Reporting. „Ich möchte aber betonen: Die Entscheidung treffen die Kliniker. Die KI soll sie dabei unterstützen.“
Ein weiterer Vorteil ist, dass die Berichtsdaten für die medizinische Forschung genutzt werden können. Gegenwärtig lassen sich nur etwa drei Prozent der in Krankenhäusern erfassten Daten für andere Zwecke auswerten.
Es ist ein bisschen wie in der Radiologie, die das Unsichtbare sichtbar macht: Die Software erkennt, was unter der Oberfläche liegt. Gesundheitliche Trends in der Bevölkerung beispielsweise. „Stellen Sie sich vor, wir hätten das Tool schon 2019 in der Breite genutzt, als die ersten Coronafälle auftraten“, sagt Vanovertveld. „Die Klinikleitungen mit Zugang zu der Plattform hätten dann erkennen können, dass da etwas Ungewöhnliches passiert.“
„Beim nächsten Mal“, hofft er, „können wir das vielleicht verhindern.“