Italienischer Hörgeräteanbieter Amplifon setzt auf Digitalisierung

Marco Giachetti war noch keine 40, als sein Gehör nachließ. Zunächst ignorierte er das Problem einfach. Doch mit zunehmendem Alter wurde es schlimmer. „Ich konnte mich immer weniger an Gesprächen mit der Familie oder Freunden beteiligen“, sagt der heute 67-Jährige. „In lauter Umgebung war es besonders schwierig. Auch im Kino und im Theater.“

Giachetti musste etwas tun. „Ich fühlte mich immer isolierter, etwas musste passieren.“

Beim italienischen Hörgeräteanbieter Amplifon fand er die Lösung. Ein Hörakustiker half ihm bei der Auswahl.

Giachetti ist nicht allein. Etwa 1,5 Milliarden Menschen haben ein mehr oder weniger eingeschränktes Hörvermögen, und 430 Millionen – über fünf Prozent der Weltbevölkerung – leiden unter einem behandlungsbedürftigen Hörverlust. Laut der Weltgesundheitsorganisation dürfte ihre Zahl bis 2050 auf über 700 Millionen steigen. Die unbehandelten Fälle kosten die Gesellschaft weltweit jedes Jahr fast eine Billion US-Dollar – für die medizinische Versorgung, Bildungsangebote und durch Produktivitätsverluste. Angesichts der alternden Bevölkerung werden Investitionen in Hörtechnologie deshalb immer wichtiger.



Investitionen in Gesundheit

Amplifon wurde 1950 von Algernon Charles Holland, einem ehemaligen Offizier der britischen Spezialkräfte, in Mailand eröffnet und fing ganz klein an. Heute betreibt das Unternehmen weltweit 9 500 Geschäfte und Hörkliniken und beschäftigt rund 20 000 Mitarbeitende. Susan Carol Holland, die Tochter des Gründers, ist die Mehrheitsaktionärin. Die restlichen Aktien sind an der Mailänder Börse notiert.

Im Juli 2023 vergab die Europäische Investitionsbank (EIB) einen Kredit über 300 Millionen Euro an Amplifon (der erste Teil eines Gesamtpakets von 350 Millionen Euro). Mit dem Geld hilft die Bank dem Unternehmen, mit Innovationen und Digitalisierung sein Angebot zu erweitern.

„Die Hälfte des Geldes fließt in Gesundheitsprojekte für ältere Menschen“, erklärt Radek Ossowski-Barbetti, der bei der EIB an der Finanzierung mitgearbeitet hat.

Mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit von Hörverlust. Über 25 Prozent der über 60-Jährigen sind davon betroffen. Zudem erhöht ein unbehandelter Hörverlust das Demenzrisiko. Mit Hörgerät sinkt es hingegen um 17 Prozent, wie aus einer aktuellen Studie der Fachzeitschrift The Lancet hervorgeht.

„Die andere Hälfte des Kredits ist für Forschung, Entwicklung und Innovation vorgesehen“, so Ossowski-Barbetti.

Das Digitalisierungs- und Innovationsprogramm von Amplifon war für die EIB noch aus einem anderen Grund interessant. Die Investitionen kommen Menschen in Europa und weltweit zugute. Aber 18,5 Prozent sind für sogenannte Kohäsionsregionen vorgesehen, also wirtschaftlich schwächere Regionen, die die EU gezielt fördert, um dort den Lebensstandard zu erhöhen.

Außerdem setzt sich Amplifon aktiv für Diversität, Teilhabe und Gendergerechtigkeit ein: 56 Prozent des Verwaltungsrats, 44 Prozent der Führungskräfte und 72 Prozent der gesamten Belegschaft sind Frauen. Fast die Hälfte arbeitet in MINT-Bereichen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), 67 Prozent davon sind Frauen.

Teurer Hörverlust

Ein unbehandelter Hörverlust erhöht nicht nur das Demenzrisiko. Er kann das Leben noch anderweitig beeinträchtigen:

  • eingeschränkte Kommunikation
  • Bildungsdefizite (in einigen Entwicklungsländern gehen hörgeschädigte und taube Kinder nicht zur Schule)
  • Beschäftigungsverlust (Hörgeschädigte sind viel häufiger arbeitslos)
  • Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung

Amplifon schätzt, dass die Gesundheitssysteme in 25 Ländern durch die kostenlosen Hörtests des Unternehmens 2022 insgesamt 289 Millionen Euro einsparen konnten.



Innovative Technik

Amplifon produziert keine Hörgeräte, sondern entwickelt innovative Hörgerätesoftware und -dienstleistungen wie:

  • medizinisch zertifizierte iPad-gestützte Audiometer (Geräte zur Messung des Hörvermögens)
  • Software zur Verbesserung der intelligenten Konnektivität von Hörgeräten
  • digitale medizinische Protokolle
  • Software-Entwicklungskits für die Fernanpassung und Interaktion mit Hörgeräten
  • weitere hochinnovative digitale Lösungen, basierend auf Data Mining und Data Analytics

Amplifon sammelt Daten für ein „maßgeschneidertes Hörerlebnis“, erklärt CEO Enrico Vita. „Mit den Daten lernen wir unsere Kundschaft näher kennen und bekommen einen besseren Einblick, wie sie ihr Hörgerät nutzen. So können wir unseren Service verbessern – etwa durch eine individuellere Nachbehandlung und Fernversorgung.“

Marco Giachetti staunt über die Entwicklung der Amplifon-Hörgeräte, seit er vor 25 Jahren Kunde wurde.

„Die Geräte der alten Generation waren schwieriger zu bedienen als die von heute“, erzählt Giachetti, der in Florenz wohnt. „An ein neues Gerät muss man sich immer erst mal gewöhnen, aber die Technologie und das Know-how von Amplifon sind Spitze. Inzwischen vergesse ich manchmal sogar, mein Gerät herauszunehmen.“

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© Neuromod

 

Hilfe gegen Ohrensausen

Eine weitere Hörstörung ist Tinnitus. Das Phantomgeräusch ohne externe Schallquelle betrifft 10 bis 15 Prozent aller Erwachsenen weltweit. Die meisten beschreiben den Ton als Klingeln, andere als Pfeifen, Brummen oder Summen. Hörbar ist das Geräusch nur für die Betroffenen.

Die irische Firma Neuromod Devices hat mit Lenire® ein Gerät entwickelt, das Tinnitus durch eine kombinierte Ton- und Zungenstimulation lindert. Die Fachwelt nennt das „bimodale Neuromodulation“.

Lenire® ist CE-zertifiziert und entspricht damit den EU-Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen. Außerdem erhielt das Gerät dieses Jahr die De-Novo-Zulassung der US-Gesundheitsbehörde FDA und kann damit auch in den USA vertrieben werden.

Seit der Gründung hat sich Neuromod Devices über mehrere Investoren mit Eigen- und Fremdkapital versorgt. Im März 2023 bekam das Unternehmen von der Europäischen Investitionsbank ein eigenkapitalähnliches „Venture-Debt“-Darlehen über 15 Millionen Euro. Damit will die Firma die innovativen Funktionen seines Geräts weiterentwickeln, die klinische Entwicklung voranbringen und mit der Vermarktung in weiteren europäischen Ländern beginnen.