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Von Silvia Guallar Artal, Martin Humburg und Nihan Koseleci Blanchy

Im Frühjahr 2020 war die Schule für 1,6 Milliarden Kinder von einem Tag auf den anderen aus.

Die Coronapandemie zwang über 190 Länder dazu, die Schulen sofort zu schließen und – mit vielen Hindernissen – auf Onlineunterricht umzustellen. Über 85 Prozent der Kinder weltweit hatten auf dem Höhepunkt der Krise keinen regulären Unterricht, und im Oktober 2020 meldeten 108 Länder einen Ausfall von durchschnittlich 47 Tagen Präsenzunterricht – rund ein Viertel des Schuljahres.

Händeringend suchte man nach Alternativen zum klassischen Unterricht, von Online-Plattformen über Schulfernsehen und -radio bis hin zu Lernpaketen, die entweder nach Hause gebracht oder per E-Mail verteilt wurden. Trotz aller Bemühungen verloren 40 Prozent aller Lernenden weltweit den Kontakt zu ihren Lehrkräften. Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Familien traf es am härtesten, da sie für digitale Geräte und Computerkenntnisse auf die Schulen angewiesen sind.

Das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Schulschließungen und Homeschooling wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Manche Kinder kommen mit der Situation gut zurecht, viele andere allerdings fallen zurück. Diese Lernrückstände müssen aufgeholt werden – sonst drohen langfristige Probleme für die Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder wieder Anschluss finden, damit sie nicht dauerhaft vom Bildungssystem entkoppelt bleiben. Digitale Tools können dabei helfen. Sie sind zwar kein Allheilmittel und müssen von den Lehrkräften umsichtig eingesetzt werden, aber sie können dazu beitragen, die coronabedingten Lerndefizite wieder aufzuholen.

Gleicher Zugang für alle

Ob Homeschooling funktioniert, hängt stark davon ab, welche Ressourcen die Kinder zu Hause zur Verfügung haben, also Internet, Digitalgeräte oder – gerade bei jüngeren Kindern – die Hilfe der Eltern. Bei den benachteiligten Schülerinnen und Schülern fehlt neben der Hilfestellung ihrer Eltern zu Hause oft auch die für den Onlineunterricht nötige digitale Ausstattung und Infrastruktur in den Schulen. Die Folge: Das Lerngefälle vergrößert sich.

Der relativ hohe Anteil „abgehängter“ Schülerinnen und Schüler ist keineswegs nur ein Problem der weniger entwickelten Länder. Wie eine Umfrage an deutschen Schulen zeigt, hatten während der Schulschließungen zu Beginn der Pandemie ein Drittel der Lehrkräfte an weiterführenden Schulen und fast die Hälfte an Grundschulen nur mit wenigen ihrer Schülerinnen und Schüler regelmäßigen Kontakt.

Für die Gesellschaft ergeben sich daraus zwei Probleme. Erstens: Einige Lernende werden den coronabedingten Unterrichtsausfall nie mehr kompensieren können. Ihnen fehlt somit die Grundlage für beruflichen Erfolg. Das zweite Problem wiegt vermutlich noch schwerer: Diejenigen, die vorher bereits Schwierigkeiten hatten, drohen so weit zurückzufallen, dass sie die Schule schließlich möglicherweise abbrechen.

Erschwerend hinzu kommt, dass die Folgen der Pandemie nicht sofort sichtbar sind. Bildung ist ein ständiger Lernprozess. Wer den Kontakt zur Schule verliert, könnte sich dadurch auf Jahre hinaus benachteiligt sehen und dem Bildungssystem später ganz den Rücken kehren. Letzteres ist tatsächlich eine große Gefahr, denn die Zahl der Schulabbrecher nimmt zu. Da ihre Wiedereingliederung in das Bildungssystem extrem schwierig ist, könnte es so weit kommen, dass sie letztlich ohne die nötigen Kompetenzen in den Arbeitsmarkt eintreten.

So entsteht ein Teufelskreis. Die Kinder und Jugendlichen schleppen ihr Bildungsdefizit mit in die Arbeitswelt, wo sie entsprechend geringer entlohnt werden. Die Folgen: zunehmende Ungleichheit und eine wachsende Schere zwischen armen und reichen Ländern. Laut der Unesco waren Schulen in reichen Ländern 2020 im Schnitt an 53 Tagen geschlossen; in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen waren es 115 Tage. Da die Bildungsleistung einen starken Einfluss auf das Wirtschaftswachstum hat, wird es für Entwicklungsländer mit einer weniger gut ausgebildeten Erwerbsbevölkerung schwierig, wieder Anschluss zu finden.

Dieser gesellschaftliche Druck entfaltet sich zu einem Zeitpunkt, da sich die Volkswirtschaften gerade erst von der Pandemie zu erholen beginnen. 2020 schrumpfte das globale Wirtschaftswachstum um 3,3 Prozent, und etwa 97 Millionen Menschen sanken unter die Grenze extremer Armut, also ein Einkommen von 1,90 US-Dollar am Tag. In Europa sind die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie deutlich spürbar. Hier ging die Produktion im Jahr 2020 um 6,1 Prozent zurück und damit stärker als während der Finanzkrise 2008.

Länder wie Deutschland, Frankreich oder Italien schätzen, dass die Schulschließungen und die damit verbundenen Lerneinbußen ihre Volkswirtschaften langfristig Billionen kosten werden.

Bildungsangebote für Kinder im Lockdown

  • 89 Prozent der Schulen weltweit verteilten Lehrpakete (Lehrbücher, Arbeitsblätter, Ausdrucke) mit vorhandenen Hilfsmitteln, darunter E-Mail
  • 78 Prozent der Länder boten Lerninhalte auch per Fernsehen und 41 Prozent über das Radio an
  • Selbst in hoch entwickelten Ländern wie Deutschland wurden interaktive Unterrichtsformen wie Videokonferenzen zu Beginn der Pandemie nur von einer Minderheit der Lehrkräfte genutzt:  9 Prozent in Grund- und 19 Prozent in weiterführenden Schulen

Quelle:  Schooling disrupted, schooling rethought: How the COVID-19 pandemic is changing education(OECD, 2020); das Deutsche Schulportal, Infografik zum Fernunterricht.

Digital Lernen – aber richtig

Richtig eingesetzt, können digitale Technologien Schülerinnen und Schülern helfen, Lerndefizite zu kompensieren. So gesehen ist die beschleunigte Digitalisierung der Bildung eine der positiven Seiten der Pandemie, hat doch der Fernunterricht in großem Stil den Weg für mehr Digitalisierung geebnet, etwa für die Kombination digitaler Hilfsmittel mit klassischen Lehrmethoden. Ein Beispiel hierfür ist adaptive Lernsoftware. Sie kann den Kenntnisstand der Lernenden bewerten und Aufgaben entsprechend anpassen, sodass der Unterricht individueller zugeschnitten wird.

Allerdings sind die Voraussetzungen für digitalen Unterricht vielfach mangelhaft – das hat die Krise deutlich gezeigt. Natürlich ist Fernunterricht ohne schnelles Internet oder die entsprechenden Geräte schwierig. Aber selbst dort, wo alle technischen Voraussetzungen gegeben waren, war nicht alles optimal.

Kurz gesagt, eine schnelle Internetverbindung und ein breites Angebot an digitalen Geräten in den Schulen machen den Unterricht nicht automatisch besser. Aber: Digitale Technologien können den Weg bereiten. Die Pandemie hat gezeigt, wie wenig geeignet einige Inhalte für das digitale Lernen waren. Vielen Schulen fehlte es an der Software und den passenden Inhalten, um Digitalgeräte didaktisch sinnvoll nutzen zu können. Bei einer breit angelegten Digitalisierung bestünden für die Content-Anbieter allerdings die nötigen Anreize, ihr Digitalangebot zu verbessern und effektivere Lernkonzepte zu entwickeln.

Um effektives digitales Lernen zu ermöglichen, muss jedoch mehr getan werden, als einfach nur klassische Konzepte oder Lernmethoden online verfügbar zu machen. Während der Schulschließungen konnten Schulen und Lehrkräfte mit digitalen Technologien zwar ein Mindestmaß an Unterricht sicherstellen. Das eigentliche Potenzial dieser Technologien liegt jedoch darin, das Spektrum an verfügbaren Lehrmaterialien zu erweitern (siehe auch den Blog „Lernen mit Bildern“).

Das Schulumfeld und die Arbeit der Lehrkräfte spielen weiter eine wichtige Rolle. Ein Lehrbuch einfach durch ein iPad zu ersetzen, führt nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen. Denkbar ist allerdings, ein gutes (klassisches oder digitales) Lehrbuch zusammen mit einem iPad zu verwenden. Bei einem Chemieversuch etwa kann auf dem Gerät virtuell simuliert werden, was passiert, wenn man Stoffe verändert oder mischt – das kann einen echten didaktischen Mehrwert bringen.

Ein weiteres wichtiges Stichwort ist Big Data. Daten können genutzt werden, um die schulische Leistung zu messen oder Schulen zu informieren, wenn sich Leistungen verschlechtern oder gar ein Schulabbruch droht. Frühwarnsysteme etwa können anhand der Daten von Schülerinnen und Schülern und nationalen Testergebnissen mögliche Entwicklungen modellieren und so ermitteln, wenn jemand aus dem System herauszufallen droht. Damit hätten Schulen die Möglichkeit einzugreifen und die Betroffenen entsprechend zu fördern.

Bildung braucht Investitionen  

All diese Ressourcen – schnelles Internet, digitale Geräte, Hilfskräfte – kosten Geld, und Investitionen im Bildungsbereich sind Mangelware. 

Nach Schätzungen der Bertelsmann-Stiftung würde die Ausstattung von Grund- und weiterführenden Schulen mit digitaler Infrastruktur, Netzen und Geräten in der EU jedes Jahr 584 Euro bzw. 825 Euro pro Schüler kosten. Bei 24,5 Millionen Schülerinnen und Schülern an europäischen Grundschulen und 36 Millionen an den weiterführenden Schulen wären das 44 Milliarden Euro – und die Geräte müssten im Schnitt alle fünf Jahre erneuert werden. Für Instandhaltung und Support fallen laut der Stiftung zusätzliche 261 Euro pro Kopf in Grundschulen und 402 Euro in weiterführenden Schulen an.

In vielen Ländern ist die Haushaltslage im Bildungsbereich allerdings angespannt. An deutschen Schulen erhöhte sich der Investitionsrückstand von 42,8 Milliarden Euro im Jahr 2018 auf 44,2 Milliarden Euro 2020. In Ländern mit niedrigem und mit niedrigem mittlerem Einkommen waren vor der Pandemie jährliche Neuinvestitionen von 148 Milliarden Euro nötig, um bis 2030 eine allgemeine Schulbildung in Vor-, Grund- und Sekundarschule zu gewährleisten.

Bei diesen Investitionen kann die Europäische Investitionsbank helfen. In den letzten 20 Jahren haben wir Bildungsprojekte mit rund 47 Milliarden Euro unterstützt. Zuletzt lag der Schwerpunkt auf digitalen Projekten wie der Digitalisierung von Schulen in Serbien oder der Bereitstellung von Computern für Universitätsstudierende in Marokko.

Die Coronapandemie hat die Staatshaushalte unter Druck gesetzt, und gerade an der Bildung wird in Krisenzeiten oft gespart. Die Wirkung solcher Einsparungen ist allerdings verheerend. In den USA hat das National Bureau of Economic Research untersucht, was Ausgabenkürzungen während der Rezession von 2008 für die betroffenen Kinder bedeutet haben: schlechtere Testergebnisse und eine geringere Studienanfängerquote. Zudem waren Kinder aus ärmeren Vierteln ungleich stärker betroffen.

Rund zehn Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben in Europa fließen in die Bildung. Diese Budgets müssen von Einschnitten verschont bleiben. Außerdem muss das Geld effizienter und zielgerichteter ausgegeben werden – so, dass benachteiligten oder abbruchgefährdeten Schülerinnen und Schülern geholfen wird.

Eine soziale Krise abwenden

Wenn wir nichts tun, könnte die Covid-19-Krise verheerende Folgen für das Lernen, die öffentlichen Bildungsinvestitionen und die internationale Mobilität von Studierenden haben. 2018 besuchten rund 250 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene keine Bildungseinrichtung. Die meisten von ihnen kamen aus benachteiligten Verhältnissen. Durch die Pandemie könnten es noch mehr werden.

Gleichzeitig warnt die Internationale Arbeitsorganisation davor, dass die Zahlen zur Kinderarbeit in der Pandemie wieder gestiegen sind – das erste Mal seit 20 Jahren. Nach den enormen Fortschritten bei der Abschaffung der Kinderarbeit droht Corona nun, einen Teil dieser Fortschritte zunichte zu machen.

Doch es gibt auch gute Nachrichten. So entstanden in der Pandemie neue Ideen, wie man Kinder erreichen kann. Ein Experiment in Botsuana etwa hat gezeigt, wie sich der Lernerfolg mit kostengünstigen Maßnahmen fördern lässt. So wurden Eltern per Telefon oder SMS darüber informiert, wie sie ihren Kindern helfen können. Auch die Giga-Initiative der UNICEF und der Internationalen Telekommunikationsunion (ITU) stößt in der Pandemie auf großes Interesse. Sie ermittelt die Internetanbindung von Schulen weltweit und wirbt Mittel ein, um hier Lücken zu schließen. Außerdem stellt sie Schulen Open-Source-Tools bereit, damit auch bei zukünftigen Schulschließungen ein Lernen weiter möglich ist.

Ohne Strategien, wie sich die durch die Pandemie verursachten Lernlücken schließen lassen, werden sich die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten im Laufe der Jahre verfestigen oder sogar verstärken. Wenn junge Menschen nach der Pandemie ohne die nötigen Kompetenzen in die Arbeitswelt entlassen werden, könnte dies zu größerer sozialer Unruhe führen und die Bemühungen ärmerer Länder um bessere Lebensbedingungen beeinträchtigen.   

Es steht viel auf dem Spiel. Zukunft braucht Investitionen – und nirgendwo sind sie sinnvoller als in der Bildung.

Silvia Guallar Artal, Martin Humburg und Nihan Koseleci Blanchy arbeiten als Bildungsökonomen in der Abteilung Bildung und öffentliche Forschung der Europäischen Investitionsbank.